Abschiedsvortrag an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien am 1.Oktober 2021 im Joseph Haydn-Saal

Er wurde mit Hilfe einer Powerpoint-Präsentation ergänzt, die Folien waren selbsterklärend und blieben unkommentiert. Die PPP ist hier nur als Titel geführt.
Den Text von Marcel Proust hat Ulli Scherer gelesen. Er ist kursiv eingefügt.
Folie 1: Titel persönlich formuliert „Dehnungsübungen - Vom Pendeln zwischen zwei Identitäten“
Folie 2: Titel dem Stil der Ringvorlesung angepasst:

Von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Musiktherapie und Psychotherapie
Eine Reise mit Marcel Proust im Gepäck

Ich lade Sie heute zu einer kleinen Reise ein. Wir beschreiten gemeinsam den Weg der Musiktherapie und begeben uns auf die Suche nach ihrer Seele. Dann springen wir zur Psychotherapie, entdecken Wertvolles, welches in ihrer Binnenstruktur schlummert. Es ist dies eine Reise, die uns alle betrifft. Und es ist eine Reise, bei der ich mir erlaubt habe, angesichts meiner Abschiedsvorlesung, ein klein wenig Persönliches einzustreuen.
Bevor wir starten, packe ich meine kleine Provianttasche, nehme meine Erinnerungen mit und Marcel Proust. Er war d e r Meister der Erinnerung. Kein anderer konnte so wie er in die Vergangenheit reisen. Sein Werk „Recherche du temps perdu“ setzt sich mit dem auseinander, was wir dazu brauchen: der Fähigkeit des sich Erinnerns, wobei er die zufällige Erinnerung, die „Memoire involontaire“ zu einer der wichtigsten Befähigungen des Menschen zählt. Und ähnlich wie bei Nietzsche ist diese Art der Erinnerung, die einen „anfliegt“, also nicht kognitiv beabsichtigt werden kann, dasjenige, was die Kunst ausmache. Kunst, nicht im herkömmlichen Verständnis, sondern Kunst als ein erfahrbares, sinnliches und wertvolles, weil seltenes Produkt der menschlichen Seele. Nicht umsonst schrieb Peter Petersen 2000 über die Dyade, die wir doch alle kennen sollten: Der Therapeut als Künstler. Den Text der berühmten Madeleinen-Episode von Proust liest Ulli Scherer, meine ehemalige Kollegin von der Schauspielschule Kraus, auf der wir beide einmal arbeiteten. Ich lasse sie mit dem Inhalt dieses Textes alleine. Wenn sie ihn in die Gedanken meines Vortrages integrieren können, so ist das fein. Wenn nicht, dann bitte genießen sie und tun das, was Alfred Schmölz immer von uns wollte: „Lauschen Sie!“. Ergänzung von mir: Und achten sie auf ihre „memoire involontaire“.

Folie 3: Marcel Proust
Nehmen wir gleich zu Beginn eine kleine Erfrischung aus unserer Provianttasche und während wir voranschreiten, gehen wir gleichzeitig zurück. Der Wille trägt uns nach vorne, die Erinnerung geht zurück. Beide starten im Hier und Jetzt

Folie 3: Marcel Proust
Nehmen wir gleich zu Beginn eine kleine Erfrischung aus unserer Provianttasche und während wir voranschreiten, gehen wir gleichzeitig zurück. Der Wille trägt uns nach vorne, die Erinnerung geht zurück. Beide starten im Hier und Jetzt:

Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.

Wir beginnen weit entfernt von dem, was wir Heute nennen, wir beginnen in der vermuteten Vergangenheit der heilenden Handlungen mit Musik und nennen das Kapitel:

Die lange Reise einer Profession namens Musiktherapie
Folie 4: Wegweiser Musiktherapie
Musiktherapie ist weder das Ergebnis eines Urknalles noch entstammt sie der Gedankenwelt eines Gründervaters oder einer Gründermutter. Soviel steht fest! Und doch wird gemunkelt, dass die Musiktherapie, respektive das bewusste Arbeiten mit Musik zu heilenden oder sonstigen Zwecken sehr, sehr alt sei!
Folie 5: Knochenflöte
Der Fund der bis dato ältesten Knochenflöte lässt Großes für unsere Profession erahnen: Knochenflöten sind die ältesten archäologisch nachgewiesenen Musikinstrumente der Menschheit. Funde dieser Art reichen bis ins Aurignacien, einer Kultur der europäischen Altsteinzeit. Hier sehen sie einen Fund von 2009; einer gut erhaltenen, aus dem Flügelknochen eines Gänsegeiers gefertigten Flöte aus der Hohle Fels (Name der Höhle) auf der Schwäbischen Alb. Sie ist ca. 42.000–43.000 Jahre alt ist.
Sind jetzt die Vorläufer heutiger Musiktherapie auch so alt? Wir dürfen es vermuten, wissen tun wir es nicht. Eingekerbte Holzstücke, über die man mit einem kleinen Ast fährt und so einen Rhythmus erzeugt, haben genau so wenig die Zeiten überlebt wie die auf hohlen Baumstämmen aufgespannten Felle.
Wir wissen viel zu wenig über die Jahrtausende währenden Praktiken derjenigen, die vielleicht heute unsere Kolleg_innen wären: die der Priester_innen, der Schaman_innen, der Heiler_innen aller Art, derer, die aufgrund bestimmter Fähigkeiten eine besondere Rolle innerhalb ihrer Gesellschaft hatten, und trotzdem wegen ihrer Sonderbegabungen oft am Rande ihrer kleinen sozialen Welt leben mussten.
Folie 6: Hexenhaus – Hänsel und Gretel und Hexe im Wald vor dem Hexenhaus
Der Weg zum Schamanen konnte auch mal beschwerlich sein und man trat ihn sicher mit gemischten Gefühlen an. Unsere Märchen berichten noch heute davon, wie gefährlich ein Weg durch den ach so dunklen Wald war, in dem es immer wieder Tabu-Zonen gab. "Wenn du da oder dahin gehst, wird dich großes Unheil treffen!" Der Parcours zwischen vermeintlichen Gefahrenzonen …, darin lag wohl auch ein Wirkfaktor, den wir heute nicht mehr zu schätzen wissen. In den Kliniken wird zugewiesen und verordnet, und die Therapie findet dann gleich auf derselben Etage statt. Die in freier Praxis arbeitenden Musiktherapeut_innen wissen allerdings, dass alleine a) der Entschluss und b) das Beschreiten des Weges in ihre Praxis eine wichtige und mit den Patient_innen zu besprechende Handlung darstellt – ein erster Schritt zu Heilung sozusagen! Das Beschreiten des Weges zu ihnen impliziert ja immer auch eine Entscheidung – eine mögliche Überweisung tritt in den Hintergrund, wenn man vor ihrer Türe steht.
Aber vielleicht verbindet uns noch mehr mit unseren frühen Kolleg_innen. Denken wir doch einmal daran, dass diese auch für die Unterstützung bei Übergängen in neue Funktionen innerhalb der Gemeinschaft - wie bei den Ritualen zur Feier der Geschlechtsreife, zuständig waren. Wie oft leisten wir heute noch Hilfe bei diesen Übergängen. Die Orte haben sich verändert, wir sitzen nicht mehr in der Höhle oder im Baumkreis. Wir nennen das heute z.B. Kinder- und Jugendpsychiatrie, oder Geriatrie, oder Hospiz. Frühe Heiler_innen, die mit Musik arbeiteten, sorgten für notwendige Verbindungen: entweder halfen sie, zwei
entwicklungspsychologisch aufeinanderfolgende Perioden miteinander zu verbinden, wie z.B. die Pubertät mit der fortschreitenden Adolszenz oder das Alter mit seiner Nähe zum Tod, oder sie schafften eine Verbindung zu verstorbenen Ahnen oder Mächten. Sie können sich nun fragen, ob sie in ihrer Arbeit nicht auch so eine Verbindungsmanager_in sind. Da fällt mir der geniale Satz von Fritz Perls ein, den er freilich auf die psychotherapeutische Arbeit mit den neurotischen Menschen des 20. Jahrhunderts bezog. Auch hier schaffen wir Verbindungen, in dem wir Verdrängtes und Abgespaltenes oder einfach auch nur Ungeliebtes mit dem Selbst verbinden helfen. Er sagte: (Gestalt-) Therapie "should heal the seperate!".
Folie 7: Tarantismo (Photo aus Film der RAI 1962)
Die bis ins späte 20. Jahrhundert verbreitete Zeremonie des Tarantismo ist so ein Relikt aus alter Zeit. Diese Austreibungszeremonie war bis in die 1960er- Jahre in Süditalien anzutreffen und ihre Wurzeln liegen vermutlich in der antiken Magna Graecia, stehen also aller Wahrscheinlichkeit nach im Zusammenhang mit damals üblichen Praktiken des antiken Griechenland (Ernesto De Martino, 2015).
Folie 8: Tarantismo (Photo aus Film der RAI 1962)
Die letzten Filmaufnahmen, die die RAI 1962 machen konnte, zeigen eindrücklich, wie sensible dörfliche Laienmusiker mit ihren Instrumenten die vermeintlich von einer Tarantel – meistens eine in die Schamlippen gebissene Frau - bei der Austreibungszeremonie musikalisch begleiteten. Übrigens: diese Anwendungen fanden öffentlich statt. Henry F. Ellenberger schrieb 1970 in seinem Werk "Die Entdeckung des Unbewussten", dass früher nur in Anwesenheit des Clans Schamanismus betrieben wurde. Nichts mit Verschwiegenheitspflicht! Schamanistische Rituale waren öffentlich, so wie beim Tarantismo, wo alle Nachbarn zusammenfanden. Es wäre eine spannende Frage, ob das, was wir heute als schützenden Raum im Rahmen unserer Arbeitsplätze anbieten, vielleicht früher die Familie oder die Sippe war. Das wäre dann schon wieder eine eigene Vorlesung wert!
Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man 'Madeleine' nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt.
Wir befinden uns noch immer im prä-institutionellen Kontext. Ich zitiere hier Manuela Schwartz (2004) und schließe mich ihrer Meinung an: "Alle genannten und ungenannten Beispiele bis ins 19. Jahrhundert hinein stellen Vorläufer moderner Musiktherapie und ihrer Theorie dar, ohne jedoch aus einem eigenen musiktherapeutischen Verständnis und Ansatz heraus entstanden zu sein."
Ab dem 18. Jahrhundert wird die Geschichte der Musiktherapie ein wenig langweiliger, mehr säkularer, aber auch exakter abbildbar. Nach Jahrtausenden der uns heute befremdenden Praktiken landen wir nun bei den psychiatrischen Behandlungen in Anstalten der westlichen Welt. Wir sind in der Epoche der Aufklärung (1720-1800). Moralische und philosophische Ansichten des verstandesgemäßen und tugendhaften Handelns durchziehen ab nun die Literatur, denken sie mal an Gustav Flaubert oder Charles Dickens; oder an Robinson Crusoe, der seinen Freitag erzieht, damit er jemanden hat, der würdig ist, die Einsamkeit mit ihm zu teilen, oder denken wir an den qualvollen Weg des Pinocchio, der unbedingt Mensch werden wollte, um so seinem "Vater" Geppetto zu gefallen. Ein Buch übrigens, dass meine Kindheit geprägt hatte. Und vergessen wir nicht René Descartes` "Ich denke, also bin ich".
Die Regungen des Gemütes dürfen gleichberechtigt neben der Ratio stehen und die Epoche der Romantik nahm ihren Lauf. Und siehe da, plötzlich besann man sich des Potentials der damals bekannten konzertanten Musik, der man große Wirkung nachsagte. Musik für das Gemüt! Musik, die Holde! Und in dieser Epoche treffen wir vermehrt auf eine Verbindung von Instrumentalist_innen mit Medizinern. Letzte Gruppe von Personen muss ich ja nicht gendern!
Was war geschehen? Im bürgerlichen und aufgeklärten Europa des 18. Jahrhunderts begann man zunächst, Patient_innen in Anstalten ein wenig musikalische Zerstreuung anzubieten (Schwartz 2012a und 2012b, Korenjak 2020). Man muss hinzufügen: einem gut zahlenden Patien_innenkreis in der "Sonderklasse" der Heilanstalten!
Folie 9: Konzertsaal
Aber immerhin: in hübsch ausgestatteten Räumen, die oft Kopien der Prunkräume privater Palais, bzw. Wohnungen waren, spielte man den etwas "besseren" Kranken auf. Dass sich im Laufe dieser Praxis aus einem Abwägen – welches Stück passt nun zu welcher Patient_innengruppe – also sich vom Trial zum Error erste vage Indikationen und Behandlungsziele herausbildeten, war der Zusammenarbeit von Medizinern mit erfahrenen Musiker_inne geschuldet (Fitzthum, 2021).
Folie 10: Klinik auf Blackwell´s Island
Ein Artikel über ein sogenanntes Experiment in einer Psychiatrie in New York, Stichwort Blackwell´s Island (Blackwel´s Island ist eine Insel im East River), zeigt, dass man hier ähnlich wie in Mitteleuropa vorging: ausgebildete Musiker_innen - ich vermute: arbeitslose Musiker_innen - spielten ausgesuchten Patient_innen vor, Ärzte supervidierten diese Experimente, evaluierten sie, und im Minimum galt: "Musik hilft, Patient_innen zu beruhigen, oder Musik hilft, die Patient_innen zu aktivieren!" So entstand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine stattliche Indikationsliste und an öffentlichem Interesse schien es auch nicht zu fehlen.
Folie 11: Zeitungsausschnitt der NYT
Die New York Times brachte am 25.3.1878 einen Artikel dazu heraus mit dem Titel "Music in Therapeutics", Untertitel "Its Effects on Maniacs". In diesem Artikel bezieht man sich selbstverständlich zunächst auf unseren Kollegen David aus dem Alten Testament (diese Tradition sollte sich auch bei unseren Schreibenden bis in die 1970er Jahre halten), es wird aber auch deutlich, dass die Not in den Heilstätten sehr groß war. Die Verweildauer erstreckte sich oft über ein ganzes Patient_innenleben und der Verbrauch an Drogen, oder sagen wir, an ersten und nebenwirkungsreichen Medikamenten war enorm und manchmal tödlich. Zudem musste man den Patient_innen der Sonderklasse etwas für den oft enormen Aufpreis bieten. Da war man schon erfreut, wenn der ein oder andere Patient besser über die Nacht kam.
Allmählich entwickelte sich in den USA ein neues Jobprofil: der des musikalischen Supervisors. Er/sie stand allen tätigen Musiker_innen einer Abteilung oder einer Klinik vor und teilte diese ein. Bei ihm/ihr liefen alle relevanten Informationen zusammen und bald konnte man neu einsteigenden Musiker_innen sagen, welche Musik bei welchen Symptomen vermutlich hilfreich sei.
Folie 12: Erste Indikationen – Flipchart aus meiner Vorlesung "Geschichte der Musiktherapie"
Wichtige Pionier_innen der USA hielten diese Funktion inne: die Pianistin Harriet Ayer Seymour; der Harfenist Willem Van de Wall und die Sängerin Eva Vescelius, aber auch Nordoff & Robbins. Dies war gleichzeitig ein erster Schritt in Richtung Institutionalisierung.
Ich denke, wir brauchen wieder ein wenig Wegzehrung, wir kommen zum Kernstück der berühmten Madeleinen-Szene:
Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.
Wir kommen nach Wien und zum Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Hier wird es für uns aus der Wiener Schule der Musiktherapie wieder interessant. Diese aus heutiger Sicht unfassbar spannende Zeit, eine Periode der Umbrüche, aber auch einer Zeit des Nebeneinanders von bald nicht mehr angesagten großbürgerlichen Attitüden bei gleichzeitiger Moderne einer hungrigen Jugend prägte nachhaltig jene frühe Kolleg_innen, die ich als "frühe Protagonist_innen der Musiktherapie" bezeichne. Sie wirkten noch in einem prä-institutionellen Raum. Die von mir erwähnte Periode wurde posthum in der Kunst als Wiener Moderne bezeichnet (ca. 1890 – 1920), gleichzeitig kann man auch von der Zeit der Lebensreformbewegungen reden, die hier begannen. Dieser Zeit entstammten auch die wichtigsten Begründer psychotherapeutischer Verfahren, allen voran Sigmund Freud, der 1900 mit seiner Traumdeutung ins Rampenlicht rückte. Es war die Zeit vieler großer Persönlichkeiten und Wien war der Ort, der sie inspirierte und ihr Schaffen vorantrieb: Victor Adler, der Begründer der Sozialdemokratie, Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, die Schriftsteller Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Alfred Polgar, die Musiker Gustav Mahler und Arnold Schönberg; die Maler Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele; die Architekten Otto Wagner und Adolf Loos. Das Schaffen kunsthandwerklicher und bildnerischer Künstler wurde gebündelt in der Wiener Werkstätte und der Wiener Secession. Letztere prägte einer nach Bildung und Lebensreformen hungernden Jugend, die die verstaubten Ideen des Fin de Siécle der Elterngeneration hinter sich lassen wollten, mit dem Logo "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit".
Folie 13: Schiele - Beispiel der neuen Sicht auf den Menschen
Die Sicht auf den Menschen veränderte sich; er wurde als verwundbar interpretiert (Schiele) und als derjenige, dessen gesellschaftliche Herkunft gleichzeitig sein erbarmungsloses Schicksal begründete (Schnitzler). Die Gesetze der Musik wurden auf den Kopf gestellt (Schönberg) und Adé du schöne imperiale Architektur (Loos).
Der Zerfall der Habsburger Monarchie 1918 und die Verwundeten des Ersten Weltkrieges waren plötzlich sichtbar. Und trotzdem: im immer noch existierenden gut geschmierten Räderwerk aus Fortschritt, Moderne, Kunst und Philosophie, Medizin und Forschung gab es wenig Berührungsängste. Vor allem die Wiener Mediziner, aus "gutem Hause" kommend, waren musikalisch sozialisiert und zeigten auch bei ihrer klinischen Arbeit eine hohe Affinität zum Musizieren. So lud der studierte Mediziner Arthur Schnitzler die später in die USA geflohene Musiktherapeutin Felic Wolmut des Öfteren zum gemeinsamen Musizieren ein.
Dieses Beispiel gelebter gesellschaftlicher Beziehungen im Wien der 1920er- und 30er Jahre verdanken wir unserer Studentin Mira Hüsers und ihren Recherchen für ihre Diplomarbeit "Sehnsuchtsort Musiktherapie".
Ich muss hinzufügen, dass ich soeben einen sehr verklärten Blick auf die Geschichte Wiens gemacht habe. Es gab auch Schattenseiten: immense Not, Armut und soziale Ungerechtigkeit! Aber für diese Menschen war Kunst und Therapie sowie nicht gedacht.
Aus zuvor beschriebener Epoche stammen wichtige Protagonistinnen der Musiktherapie. Hätte es nicht den Nationalsozialismus ab 1933 gegeben, so hätten auch wir in Wien vor der Mitte des 20. Jahrhunderts wie in den USA mit der Musiktherapie gestartet. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die meisten der von mir eben erwähnten Namen jener Personengruppe angehörten, die man heute als die assimilierten Juden Wiens bezeichnen würde. Ihre Vorfahren waren irgendwann zum christlichen Glauben konvertiert und bildeten in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Wien innerhalb des Großbürgertums eine kunst- und wissenschaftsaffine Gruppe. Wer es aus dieser Gruppe nicht schaffte, ab 1938 zu fliehen, wurde ermordet. Wir wissen nicht, wie viele potentielle "Kolleginnen" von uns ermordet wurden, wir könne nur die Biografien derjenigen aufarbeiten, denen die Flucht gelang und die in der Diaspora musiktherapeutisch arbeiteten.
Folie 14: Vally Weigl (Photo)
Die 1938 nach New York geflohene Musiktherapeutin Vally Weigl war Gegenstand meiner Dissertation aus dem Jahr 2004.
Folie 15: Felice Wolmut (Photo)
Hier sehen sie die eben erwähnte Felic Wolmut, auch sie floh 1938 in die USA.
Ich vermute, wir brauchen eine kleine Zwischenjause:
Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen.
Manuela Schwartz stellte 2004 die Frage: "Gibt es überhaupt bereits eine schon zu bearbeitende, im kollektiven Gedächtnis der hier Anwesenden verankerte Geschichte der Musiktherapie?" Ich ergänze: "… der Zeitspanne zwischen 1933 und 1945?"
Nur, weil die Musiktherapie das Glück hat, ihren institutionellen Beginn in Europa auf nach 1945 datieren zu können, möge man aufhören zu glauben, unsere Disziplin habe nichts mit den grausamen und menschenverachtenden Machenschaften zwischen 1933 und 1945 zu tun. Die Gnade der späten Geburt als Ausrede für Geschichtslosigkeit einer ganzen Disziplin? Als ich in Wien studierte, fiel mir sofort auf, dass es über die besagte Zeitspanne kaum etwas zu berichten gab? Man erwähnte immer wieder, dass wir unsere Disziplin vermeintlich aus den USA importiert hätten. So war es aber nicht. Heute reden wir von einer
musiktherapeutischen Community in den USA nach 1940, in der auch unsere geflohenen Vorgängerinnen mitwirkten.
Folie 16: Buch Hrsg.Teirich
Und es gab mehr Wiener Geflohene als Vally und Felice. So z.B. das Ärztepaar Dr. Martha Brünner-Ornstein und Dr. Frank E. Ornstein, beide publizierten 1958 im immerhin damals einzig seriösen Buch über Musiktherapie, herausgegeben von H.R. Teirich, unter dem Doppelnamen Dr. M. und Dr. F. Brunner-Orne ihren Artikel "Englische Handglocken und ihre Verwendung in der psychiatrischen Klinik". Wie viele Kolleg_innen haben seitdem dieses Buch in der Hand gehabt und sich nicht gewundert, dass beide laut Autor_innenabgaben von S. 185 1938 in die USA "ausgewandert" sind?! Hinter vielen Namen unserer frühen Community verbergen sich Schicksale. Wieder eine Vorlesung! Das wir während meiner Ausbildung noch in Räumen von Kliniken mit teilweise ruhmloser Vergangenheit unsere Praktika absolvierten, wo ich heute lieber nicht wüsste, was dort in den ehemaligen Kinder- und Jugendabteilungen während des Krieges geschehen ist, war nicht einfach für uns. Mit ein Grund, warum ich in meinem Jahrgang die einzige war, die in diesem Beruf gearbeitet hat.
Als ich 1973 mit dem Studium hier in diesem Hause anfing, hing der modrige Geruch der Vergangenheit noch ein wenig in der Luft – selbstverständlich, ohne, dass je darüber geredet wurde. Unser Geschichtsbewusstsein pendelte von David über Pythagoras zu den USA des 20.Jahrhunderts.
Dies alles ist wichtig zu wissen, denn es erklärt die anfängliche Orientierungslosigkeit unserer Gründerjahre ab 1959. Kaum Kontakt zum Ausland, keinen wie immer gearteten Kontakt zur Psychotherapie, Pionier_innen, die fast alle aus dem Dunstkreis der Anthroposophie kamen und das über allem schwebende Narrativ von David mit der Harfe – eine seltsame Mischung für die Gründerphase. Dazu ein merkwürdiger Mann, der Alex Pontvik hieß und über die ordnenden Kräfte der Bach´schen Musik zu berichten wusste, wohl aber wenig klinisch bewandert war.
Aus was setzte sich nun unsere Pioniergeneration in Wien zusammen? Ab 1959 war man Musiker_in, vorzugsweise Musikpädagog_in, nicht jüdisch, mit Überhang zur Anthroposophie, glaubte an die Wirkung von Musik und hatte bestenfalls einen prägenden Instrumentalunterricht bei einem/einer Reformpädagog_in. Die, die mit einer gewissen Kontinuität die Behandlung mit Musik hätten fortführen können, waren geflohen oder wurden ermordet und die meisten unserer potentiellen Patent_innen fielen der Euthanasie zum Opfer. Eine tolle Mischung, oder? Viel mehr gab es nicht. Da war viel Raum für Irrationales und, so vermute ich, viele Schuldgefühle!
Folie 17: Titel Diplomarbeit Rhythmus
Es begann die Zeit, in der man/frau sich mit der vermeintlichen Wahrheit half, dass es etwas gäbe, was uns alle miteinander verbinde, z.B. den Rhythmus mit seinen ordnenden, gemeint waren: disziplinierenden Kräften! Ein übrigens aus der Propaganda des Nationalsozialismus – und schon zuvor aus der Weimarer Republik - schwer missbrauchtes musikalisches Phänomen! Thomas Luckmann schrieb 1991 (1967) von den "unsichtbaren Religionen", einer Religion ohne Kirche und die zunehmend marktorientiert ist. Die Musiktherapie ist gefordert, immer wieder darauf zu achten, dass sie sich nicht solcher bedient! Das wäre eine andere Vorlesung, aber auch sehr spannend!
Folie 18: Editha Koffer-Ullrich (Photo)
Also zurück ins Wien von 1959. Hier taucht die emsige Netzwerkerin und Violinistin Editha Koffer-Ullrich auf, die Mitbegründerin und erste Leiterin der Wiener Ausbildung (1959 –
1969). Sie bemühte sich zwar in Gegenwart der Ärzte um Wissenschaftlichkeit und Seriosität, jedoch Sätze aus einem von ihr angedachten und geplanten – aber nie realisierten Forschungsprojekt lassen aufhorchen. Sie verdeutlichen, welche Themenfelder sie beforschen wollte:
Folie 19: Abschlussarbeit Koffer-Ullrich
"Zu untersuchen sind die Wirkungszusammenhänge zwischen der natürlichen Erdschwingung im Frequenzbereich von rund 10 Hz (…) und dem Pflanzenwachstum, sowie die Wirkungen einer Zufuhr künstlich erzeugter Schwingungen in anderen Frequenzbereichen und anderen Amplituden auf das Jugendwachstum der Pflanzen." 1 Diese Art der Forschung stand in Verbindung mit dem damaligen an der mdw beheimateten Institut für Harmonikale Grundlagenforschung.
So passte es lange zu dem Selbstbild damaliger Musiktherapeut_innen, einer ganz und gar besonderen Heilkunst zu dienen. Manchmal, wenn unsere Pionier_innen von ihrer Arbeit redeten, hatte das so etwas Heiliges und Geheimnisvolles. Nicht bei allen natürlich! Kein Wunder, dass die damaligen Ärzte, die uns begleiteten, unser Potential erkannten, aber auch wussten, dass man dieses "bunte Völkchen" ja nicht alleine lassen durfte (wörtlich Raoul Schindler). Seltsam, irgendwie brauchte man uns wohl und wir blieben und wuchsen. Das Narrativ vom ersten Musiktherapeuten David blieb bis in die 1970er- Jahre. Ich persönlich erlebte diese Zeit der 1970er- und 1980er Jahre als Jahre des Suchens nach etwas, das man herzeigen konnte um einen festen Platz in den klinischen oder heilpädagogischen Teams zu erhalten. Jedenfalls wollten wir mehr als nur Singtanten sein.
Folie 20: Schmölz
Dass sich mit dem Auftritt von Alfred Schmölz, der 1970 den damaligen Lehrgang Musiktherapie übernahm, eine deutliche und vor allem für die begleitenden Ärzte sichtbare Abkehr von Esoterik jeglicher Art vollzog, davon soll anlässlich unserer Buchpräsentation am 9.12.21 in diesem Haus die Rede sein. Nur wer die Geschichte v o r Schmölz kennt, weiß die Leistung dieses Mannes zu schätzen und zu würdigen. Durch ihn und die begleitenden Ärzte wurden erste Grundsteine zu einem psychotherapeutisch orientierten Verfahren gelegt. Es geschah der bislang wichtigste Paradigmensprung, der uns das (Über-) Leben sichern sollte. Und um ihn ein einziges Mal mit Sigmund Freud zu vergleichen: durch ihn wurde die Musiktherapie ein Kind der Aufklärung. Davon jedoch mehr am 9. Dezember.
Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann. Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt.
In der Folge wurde es zur Überlebensfrage, ob wir die Musiktherapie auf das Fundament einer einheitlichen und stringenten Forschung und Theorie heben konnten. Schmölz tat einen ersten Schritt in diese Richtung: ab 1970 hatten sich er und die meisten der
1 Dieses Zitat stammt aus einem "Forschungsantrag", dessen Datum nicht bestimmbar ist, aber sicher Jahre vor 1970 geschrieben wurde. Was aus diesem Antrag wurde, ist nicht bekannt. Aus dem Archiv der Autorin.
begleitenden Ärzte dazu entschieden, die Psychotherapie als neue Leitdisziplin zu integrieren. Mit diesem Schritt waren wir meines Wissens nach die ersten weltweit, die sich dazu entschlossen haben und dies bis heute konsequent verfolgen.
Ich verzichte darauf, all das aufzuzählen, was wir seit 1959, oder sagen wir, seit 1970 geleistet haben: wie wir uns mit einem höchst engagierten Tun und vielen Versuchen und Irrtümern an das heutige Lehrgebilde "Musiktherapie" herangearbeitet haben. All dies wird publiziert, gelehrt, bei Kongressen vorgetragen und in internationalen Arbeitskreisen diskutiert. Nicht zu vergessen: unser Engagement im Ausland. In der Zwischenzeit ist die Musiktherapie zu einer Profession herangewachsen, für die man sich nicht mehr schämen muss. Achtung und Würdigung von allen Seiten, auch in unserem Hause übrigens, ermuntern uns, an unserem theoretischen und klinisch-praktischem Gebilde weiter zu arbeiten. Und so wurde die Wiener Schule zu etwas, worauf man stolz sein darf! Worauf sie, verehrte Studierende, stolz sein dürfen.
Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn, ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.

Betreten wir gemeinsam einen neuen Pfad und nehmen die Erkenntnis mit, dass Musiktherapie aus einem Nebel von Mythen und Versuchen entstanden ist und durch den Nationalsozialismus tiefe Wunden erfahren hat, auch wenn es uns da nicht gab – ein Paradoxon, aber keine Ausrede.
Folie 21: Wegweiser Psychotherapie

Teil II
Psychotherapie
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit der Psychotherapie machte ich 1978. 1977 hatte ich die Musiktherapieausbildung hier im Hause abgeschlossen und war gerade für einige Semester Studentin am Max Rheinhardt Seminar in Wien. Zusätzlich besuchte ich für zwei Jahre eine gestalttherapeutische Jahresgruppe. Und ich begann zu verstehen, dass neben dem expressiven Teil meiner Persönlichkeit mir noch etwas gefehlt hatte: Hinter den einzelnen Interventionen meines Gruppenleiters verbargen sich: eine Weltanschauung, eine Haltung zum Gegenüber und viel Bereitschaft, Konflikte mit uns auszuhalten. Mir war sofort klar: Wenn mein Weg hier weiter gehen sollte, dann musste ich mir über Fragen Gedanken machen, die ich in der Musiktherapie immer vermisst hatte: Was ist der Mensch? Was ist die Welt? Und welche Haltung befähigt mich, einem anderen Menschen gegenüber zu treten um ihm helfen zu können? Diese Fragen begleiten mich bis heute; glücklich, wem sie egal sind. In meiner ab 1986 begonnen Gestalttherapieausbildung habe ich gelernt, ohne Selbstzensur über vieles nachzudenken. Widersprüchliches und Provokantes hatten plötzlich Platz und
wurden zu etwas, das man auch den Patient_innen zumuten durfte. Lichtgestalten wie Martin Buber, Hannah Arendt, Max Weber und Claude Lévy-Strauss begleiteten mich intellektuell. Nun verstand ich all die Existentialisten, deren Werke ich bereits als Jugendliche verschlungen hatte: Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus. Ich begann zu verstehen, dass es da draußen keinen großen Plan gab, dass jeder Mensch Verantwortung für sein Leben übernehmen müsse – in letzter Konsequenz auch unsere Patient_innen. Ich war also mit einem Fuß im Existentialismus angekommen und ich wurde zur Gestalttherapeutin.
Warum ich ihnen das erzähle? Weil das alles etwas mit Therapie zu tun hat! Und hoffentlich auch mit Musiktherapie. Davon später!
Ein Blick in die Geschichte der Psychotherapie
Die Psychotherapie war zuerst da. Dies ist unbestritten, wenn wir von ihr als institutionalisiertes und im Gesundheitssystem verankerten Behandlungssystem reden. Psychotherapeutische Verfahren, wie wir sie heute kennen, sind historisch gewachsene Gebilde mit komplexen Theorie- und Regelwerken, welche sich zwischen Psychologie, Soziologie, Medizin, Neurobiologie, Ethik und Philosophie positioniert haben. Manches Mal wundert man sich, dass Psychotherapie in der Praxis nach wie vor ein individuell auf die Persönlichkeit der jeweiligen Patient_innen abgestimmtes Arbeiten bedeutet. Das dahinterstehende Regelwerk ist für die zu Behandelnden nicht oder wenig erkennbar. Böse Zungen mögen ja behaupten, dass wir im Sitzen und mit ein wenig Reden unser Geld verdienen.
Die Psychotherapie hat den Vorteil, dass sie sich auf einen Gründervater beziehen kann; sein gesamter Werdegang, die sozio-kulturellen Hintergründe seines Werkes, seine Lehrmeister, ja selbst die Liebesbriefe an seine Frau Martha Bernays sind uns bekannt. Gemeint ist Sigmund Freud, der nach einem Wiener Medizinstudium während vier Wintermonate (1885–-1886) in Paris bei Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière wichtige Studien machen konnte und dann, wieder in Wien zurück, mit Hilfe von Josef Breuer seine ersten Gedanken zum Thema Hysterie niederschrieb. Geliebt und gehasst, heute im Olymp der Unsterblichkeit; 1933 die öffentliche Verbrennung seiner Bücher erlebend, 1938 vor den Nazis mit 82 Jahren nach London geflohen, um dort 1939 "in Ruhe zu sterben".
Folie 22: Zitat Fromm
Erich Fromm nannte ihn den letzten Vertreter des Rationalismus: "In seinem Laboratorium, in dem er sich einzig auf Beobachtung, Vernunft und seine eigene Erfahrung als Mensch verläßt, macht er die Entdeckung, daß geistig-seelische Erkrankungen nur im Zusammenhang mit moralischen Problemen verstanden werden können (…). Der Analytiker ist weder Theologe noch Philosoph und erhebt keinen Anspruch auf Kompetenz auf diesen Gebieten." (Fromm, 1979, S. 15).
Besser kann man es nicht sagen! Sehen sie, hier liegt der wesentlichen Unterschied zur Musiktherapie, und dieser Unterschied liegt in beider Geschichte verborgen:
Der Gründervater der Psychotherapie war also ein lupenreiner Vertreter der Aufklärung. Er räumte mit jedem Hokuspokus auf, er erkannte, dass es unerforschte Neigungen i n u n s gäbe, die wir nicht zu steuern vermögen. Die seelischen Erkrankungen des Menschen sind nicht der Macht der Götter geschuldet, sondern sie sind individuellen Ursprungs. Sie zu analysieren, bedeutet, die Kellerstiegen unserer Kindheit hinabzuschreiten und zu ergründen, unter welchen moralischen Ansprüchen der Mensch sich entwickeln konnte – oder eben nicht. Freud unterschied explizit seine Arbeit von der seiner "Vorgänger", den Priestern und betrachtete die Religionen sehr kritisch. Deren Ursprung sah er in der
Unfähigkeit des Menschen, sich mit seiner Hilflosigkeit den gewaltigen Naturkräften gegenüber auseinanderzusetzen. Erst mit der Entwicklung von Vernunft und durch ein Wissen über bedrohliche Vorgänge außerhalb seiner häuslichen Welt (Wetterphänomene, Krankheiten, Tod, Corona?!, etc.) konnte so etwas wie Freiheit bzw. Unabhängigkeit vom Glauben an die allmächtige Kraft entstehen. Je mehr der Mensch über seine existentiellen Bedrohungen w u s s t e, umso weniger musste er sich fürchten und in eine Illusion (Fromm, 1979, S. 21) zurückfallen, die aus frühen Kindheitstagen stammte und ihn immer daran erinnerte, dass, wenn er gehorche, der gute Vater ihn beschützen würde.
Die Priester verlangten Gehorsam. Kaum vorzustellen, dass im alten Ägypten ein Mensch aus dem Volk mit einem Priester darüber diskutiert hätte, dass das gewünschte Opfer für ihn zu groß sei, ein halbes Schaf täte es doch hoffentlich auch. Oder eine kleine Diskussion am Orakel von Delphi? Themis in der Rolle der Pythia prophezeit dem Aigeus einen Sohn und dieser meint, er hätte aber lieber eine Tochter?
Die Psychotherapie verlangt keinen Gehorsam, sie ist auf Vernunft und Erkenntnis aufgebaut und je mehr die Patient_innen über die Zusammenhänge von ihrer individuellen Geschichte mit den Symptomen ihres Leidens verstehen lernen, umso besser können sie damit umgehen. Seit Freud ist ein kritikloser und ergebener Gehorsam nicht mehr die Lösung, sondern das Übel. Wichtig!! Wichtig!! Wichtig!!
Da haben wir leider in der Musiktherapie einige Jahrzehnte verschenkt. Erst ab 1970 und durch Schmölz wehte bei uns ein kleines Lüfterl dessen, was die Psychotherapie ausmacht – oder ausmachen sollte.
Zwischenstopp.
Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, daß sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.
Die Psychotherapie hatte lange ein Problem, dass wir so kaum kennen: das, was sich seit Freud ab 1900 weiter- und zum Teil von ihm wegentwickelt hatte, verlangte nach einem System, welches a) der heute existierenden Diversität psychotherapeutischer Behandlungsansätze und b) einer akademisierten Lehre gerecht werden konnte. Es wurde notwendig, ein theoretisches Gebäude zu entwickeln, welches hilft, das Gemeinsame und das Trennende aller Verfahren zu kategorisieren. Bei zunehmender Diversität innerhalb der Psychotherapie ging es darum, ob und wie es eine common identity gäbe, bei gleichzeitiger Freiheit, sich auch mit seinem Verfahren zu identifizieren! Ende des 20. Jahrhunderts war es an der Zeit, das Verbindende sowie die Unterschiede zu klassifizieren und zu benennen. Ansonsten, das war allen Beteiligten klar, würde es kein Psychotherapiegesetz geben. Es brauchte so etwas wie eine Kompassnadel im Therapiedschungel. In Österreich wurde die enorme Diversität innerhalb der Psychotherapie zur Kultur erhoben, ganz im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, wo man wegen zahlreicher Limitationen im Gesetz diese großartige Kultur der vielfältigen Grundorientierungen und Verfahren beschränkt hatte. Immerhin sind bei uns 23 Verfahren vom Gesetzgeber anerkannt. Kein Wunder, wir haben in Österreich immer eine etwas liberalere Sicht auf die Psychotherapie gehabt.
Hilarion Petzold, Mit-Begründer der Integrativen Psychotherapie publiziert und lehrt ab den 1990er-Jahren zwei hierarchisierende Ordnungssysteme: den Tree of Science und die Gliederung der Psychotherapie in Grundorientierungen, Verfahren und Methoden. Vor allem letzteres Modell klärt Fragen zur Binnenstruktur des psychotherapeutischen Feldes.
Folie 23: Binnenstruktur und Identität
Im übertragenen Sinne meinte Petzold (1993), dass die innere Stabilität einer Therapeut_innenpersönlichkeit aus dem Wissen um die Architektur "seines/ihres" Gebäudes stamme. Das – nämlich die Identität der Therapeut_innenpersönlichkeit - war der Motor zur Erstellung dieser Architektur, auch das wollen wir nicht vergessen! Wann immer ich in der deutsch sprechenden Community außerhalb Österreichs die Modelle Petzolds präferiere, ernte ich auch Kritik: es sei nicht alles richtig, was er schreibe und vieles sei geklaut, und überhaupt. Ich kann nur sagen: bringen sie mir ein besseres Modell!
Folie 24: Liste der Verfahren
Wir sehen hier eine Tabelle mit den uns bekannten Grundorientierungen (wenn sie so wollen, auch der Paradigmen) und deren Begründer_innen. Das Schöne an dieser Auflistung ist, dass sie einer inneren historischen Logik folgt: eine Grundorientierung baut auf die vorangestellte auf, bzw. setzt sich mehr oder weniger explizit von der vorangestellten ab.
Und nun kommen wir zur Seele der Psychotherapie, dem Tree of Science:
Wie bereits erwähnt, stellt der Tree of Science (Petzold, 2003, S. 65; Stumm, 2011, S. 13 f.) einen Versuch dar, der Psychotherapie ein inneres Ordnungs- und Orientierungsschema zu geben, mit dem sich alle Verfahren und Methoden auseinandersetzen können, um zu wesentlichen Themen wie Weltbild, Menschenbild, Krankheitsverständnis, etc. Stellung nehmen zu können bzw. zu beforschen. Der Tree of Science ist das Rückgrat der in Österreich vertretenen Psychotherapie. Die Metapher des Baumes ist nicht neu, sie wurde und wird in vielen Wissenschaften genutzt und illustriert, dass und wie sich etwas (weiter-) entwickelt hat, wobei die Bezüge aller einzelnen Aspekte zueinander immer im Blickfeld bleiben.
Folie 25: Baum der Erkenntnis
Bereits im Alten Testament gab es den Baum der Erkenntnis, welcher der Schlüssel zum Sündenfall war; im Mittelalter diente der Baum des Wissens der Sammlung und Systematisierung des bis dahin bekannten Wissens und René Descarte nannte den Baum der Wissenschaft "das große Buch der Welt", die Gesamtheit des Wissens und aller Wissenschaften. Der Traum, das gesamte Wissen im Rahmen einer einzigen Metapher zu ordnen, ist also sehr alt. Petzold adaptierte diese Metapher für die Psychotherapie:
Folie 26: Tree of Science, Petzold
In meinem nun abschließenden Teil des Vortrages beziehe ich mich auf die Ebenen I. und II. und erkläre ihnen gegen Ende den Grund dazu:
Zunächst haben wir die vier Ebenen: Metatheorien, Therapietheorien, Praxeologie, Praxis. Links sehen sie Begriffe, die im Grunde nichts anderes wollen, als die für uns wichtigen Fragen auf der rechten Seite zu systematisieren. Wir müssen uns also Fragen stellen oder: wir müssen uns den Fragen stellen!


Der folgende Kasten wurde nur auf Ebene I. angesprochen)
I. METATHEORIEN
Erkenntnistheorie -> wie wird die Wirklichkeit erkannt?
Wissenschaftslehre -> was ist Wissenschaftlichkeit?
Kosmologie -> was ist die Welt?
Anthropologie -> was ist der Mensch?
Gesellschaftstheorie -> wie hängen Mensch und Gesellschaft zusammen?
Ethik -> was darf ich, was muss ich, was ist erlaubt?
Ontologie -> was ist das Wesen des Seins?

II. THERAPIETHEORIEN
Allgemeine Theorie der Therapie -> Modelle, Wirkfaktoren, Ziele?
Persönlichkeitstheorie -> Strukturen und Funktionsweisen?
Entwicklungstheorie -> normierte Entwicklungsverläufe?
Gesundheits- und Krankenlehre -> was ist krank, was ist gesund?
Spezielle Theorie der Therapie -> Indikationen/Kontraindikationen?

III. PRAXEOLOGIE
Praxeologie -> Wissenschaft systematischer Praxis
Interventionslehre -> Theorien der Interventionslehre
Methodenlehre -> Methoden, Techniken & Medien
Theorie des Settings -> phasenspezifische Konzepte?
Theorien zu spez. KlientInnensystemen -> z.B. Altersspezifisches
Theorien zu spez. Institutionen und Feldern -> ambulant, stationär oder Freie Praxis

IV. PRAXIS
in Dyaden
in Gruppen und Netzwerken
in Organisationen, Institutionen

Folie 27: Grafik vom Tree of Science aus der Gestalt
Conclusio
Warum ist es mir in meiner Abschiedsvorlesung so wichtig, mit dem Tree of Science zu enden? Nun, ich hatte das auch nicht beabsichtigt, aber während meiner Vorbereitungen fiel
mir etwas auf und es versetzt mich erst jetzt in die Lage, meine oft auch ambivalente Beziehung zur Musiktherapie verstehen zu können. Sie – die Musiktherapie - setzt sich intensiv mit den Ebenen II, III und IV auseinander. Und: sie vernachlässigt, so meine Meinung, die erste Ebene, die Wurzeln sozusagen. Es scheint irgendwie so zu sein, dass man denken könnte: "je weiter von den Techniken weg, umso weniger beachtet". Und "je näher hin zu beispielsweise klient_innenspezifischen Behandlungsformen, umso prominenter platziert". Besuchen sie den nächsten internationalen Kongress für Musiktherapie, dann wissen sie, was ich meine.
Die Metatheorien! Ich behaupte, dass die Seele der Musiktherapie in den Metatheorien ruhen könnte.
Lassen Sie mich zum Abschluss auf einige Aspekte der Metatheorien eingehen, um ihnen die Bedeutung derer für unser Handeln zu illustrieren:

1.Versuch
Was ist Wirklichkeit? Wie erkennen wir die Wirklichkeit? Gibt es überhaupt Wirklichkeit? Gibt es eine oder mehrere Wirklichkeiten? Kann eine Wirklichkeit zweimal wirklich werden? Ist sie wiederholbar? Ist meine Wirklichkeit deine Wirklichkeit? Ist die in der Erinnerung von Proust auferstandene Wirklichkeit eine Wirklichkeit oder das Ergebnis einer neuronalen Vernetzung? Ist meine Wirklichkeit auch die von ihnen, liebe Anwesende? Wie bestimmen wir Musiktherapeut_innen die Wirklichkeit? Haben wir Modelle dazu? Sie sehen, die Liste der Fragen ist sehr lang.
Ich versuchte Ihnen im ersten Teil darzulegen, dass unsere Pioniergeneration in Wien – sei es, weil sie anthroposophischen Bekenntnisses war oder nicht, egal – einen starken Überhang zu Fragen der Kosmologie hatte. Zur Erinnerung: Die Kosmologie ist die Lehre, die sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des Weltalls beschäftigt. Editha Koffer-Ullrich war ein Beispiel dafür. Für sie bedeutet das: es gibt eine vom menschlichen Denken unabhängige, strukturierte Wirklichkeit. Um dies zu belegen, suchten unsere musiktherapeutischen Vorfahren ihre Marker ganz weit draußen im Weltall und in der Natur, um sich dann langsam vorarbeitend, Rückschlüsse auf die Musik und den Menschen ziehen zu können. Der Bezug zu Pythagoras lag hier nahe. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Henk Smeijsters` (1996/2009) historische Bausteine der Musiktherapie: "Magisches Paradigma", "Mathemathisches Paradigma", "Medizinisches Paradigma" und "Psychologisches Paradigma". Die Wiener Pionier_innen mäandrierten demnach zwischen allen vier möglichen Paradigmen, je nachdem mit starkem Überhang zum Mathematischen Paradigma.
Folie 28: Koffer-Ullrich Abschlussarbeit
Deshalb konnten Arbeiten wie die zuvor zitierte überhaupt zustande kommen. Oder der Titel der Abschlussarbeit von Schmölz.
Folie 29: Schmölz Abschlussarbeit
So meinte man, die Begründung dafür gefunden zu haben, warum und wie Musik wirke. Die Musik wurde so zu einem Etwas, in welchem die Gesetze bis hin zum Urknall vorhanden sein könnten. Viele unserer musiktherapeutischen Vorfahren glaubten, mit der Kosmologie und einer auf sie abgestimmten Sichtweise auf die Musik an sich eine Legitimation für die Behandlung menschlicher Seelen zu haben. Stichwort "Pythagoras", Stichwort "Bach`sche Musik ordnet". Wenn schon alles den gleichen Gesetzen gehorcht, dann auch der Mensch, dann auch die Musik, dann auch die Seele, dann auch der Körper. Es ist doch klar, dass in
dieser Denkwelt die Musiktherapie von vollkommen anderen Grundannahmen ausging, bzw. ausgeht. Denken wir an Pontvik, Nordoff & Robbins und wie sie alle hießen: sie waren ihrem Glauben verpflichtet, dass Musik an sich ein ordnendes Agens beinhalte, welches die Seele zu heilen vermag. Und da sind wir bei einem Menschenbild und Krankheitsverständnis, welches besagt: Krankheit der Seele beruht auf einer spezifischen Art der "Unordnung". Es ist etwas nicht mehr stimmig, etwas ist aus dem Ruder gelaufen. Dies zu glauben, steht jedem frei. Was ich ihnen aber sagen will, ist: selbst dieser kleine Aspekt aus der Ebene der Metatheorien "Was ist die Welt?" - hat Konsequenzen für Methoden und Techniken. Das sollte man einfach wissen. Und das ist für mich das faszinierende am Tree of Science: es gibt eben kein Blättchen, was nicht aus den Wurzeln gespeist wird. Und wenn wir uns jetzt noch gemeinsam anschauen würden, wie man damals gearbeitet hat, dann begegnen wir Begriffen wie "musikzentrierte Musiktherapie" oder "schöpferische Musiktherapie". Das ist einfach logisch, oder?

2. Versuch
Dann kam Schmölz, der sich stetig weiterentwickelte und den Reformpädagogen Heinrich Jacoby verehrte: plötzlich wurde – ganz Reformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende, das Handeln zu einem sozialen, befreienden, aber auch auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Agens. Dieser Aspekt möglicher Erkenntnisgewinnung passte wunderbar mit der Leitfigur seines klinischen Arbeitsplatzes zusammen: Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie, der u.a. die soziale Umwelt der Patient_innen und die gegenseitigen Einflussnahmen auf die Gesundheit des Menschen in das Blickfeld rückte. Und zu Ende gedacht heißt das ja nur: wenn das Maß realer und von der Gesellschaft tolerierter Handlungen bei unseren psychosomatischen Patiet_innen ausgeschöpft ist, dann muss eben der Körper handeln, dann müssen die Organe handeln. Auch das ist logisch.
Folie 30: eine Gruppe improvisiert
Also geht der Weg der Erkenntnis hier über die Reflektion der Handlung während der musiktherapeutischen und meist freien Improvisation und dem soeben Erlebten; so erschließt sich ein Teil der sozialen und psychischen Wirklichkeit – für die Patient_innen. Für einen kurzen Moment bin ich in der Lage, dieses und jenes zu erkennen. Meine Angst, mein Neid, meine Minderwertigkeit, … . Weitergedacht bedeutete das für die Musiktherapie: nicht nur die Musik ist der Wirkfaktor, sondern es ist das Tun, das Handeln, das Improvisieren. Folglich, und auch wieder logisch, wird man sich hier Fragen annähern wie: Wie stelle ich mich den auftauchenden Problemen? Wie re-agiere ich? Wie werde ich Teil der Gruppe, oder umgekehrt: wie schütze ich mich vor den anderen? Und siehe da, da sind wir schon ein wenig in der Wiener Schule!

3. Versuch
Ich kann mich natürlich einer Richtung anschließen, die für mich die Wirklichkeit erklärt. Ich übernehme das dann und erwarte von meinen Patient_innen, dass sie sich in diese Matrix einfügen. Das geht, keine Sorge! Ich kann aber auch die Wirklichkeit verstehen wollen, in dem ich das Verstehen als einen Prozess interpretiere, als einen spiralförmigen Verstehensprozess, der zu einem ständigen Verstehenszuwachs führt, der mich in letzter Konsequenz vom Ausgangspunkt entfernt und zu neuen Fragen führt. Das nennen wir Hermeneutik, bzw. die "hermeneutische Spirale".
Folie 31: Grafik - Hermeneutische Spirale
Verstehen ist etwas Dynamisches, etwas, dass sich jeder Schablonisierung entzieht. Das bedeutet, dass ich die Wesensmerkmale meines Gegenübers unter Einbeziehung der Reflexion meines eigenen Interpretationsstandpunktes im Sinne wechselseitiger Beziehungsmomente zu erkennen versuche. Dass es dabei weder falsche noch richtige, sondern bestenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen gibt, versteht sich von selbst. Ich bin also Teil der Erkenntnis! Diese Art der Erkenntnisgewinnung hat sich in der Psychotherapie, vor allem in den Humanistischen Verfahren durchgesetzt – mein Gegenüber und ich, wir sind beide Teile eines Verstehensprozesses. Du und ich; Ich und Du….
Usw., usw., usw. Um alle Ebenen durch zu deklinieren, bräuchten wir viel Zeit; also wieder eine oder mehrere Vorlesungen.
Folie 32: mdw – alter Institutseingang Rennweg

Kommen wir zum Schluss
Mein Wunsch an die Musiktherapie in diesem Hause – im Übrigen ein Haus, welches uns in der letzten Dekade mit sehr viel Wertschätzung behandelt hat - und an die Musiktherapie überall: Weiter so! Wir sind noch immer jung und auf einem Weg. Aber: ich bitte die Balance zwischen den kleinen Ästchen und Blättchen und dem Stamm mit seinen Wurzeln zu halten. Wir – zumindest wir in Wien - sind in einem psychischen Raum des daddylessness entstanden. Mütter, die dieses Vakuum füllen wollten, haben wir nie (hier in Wien) akzeptiert. Ich habe den Eindruck, dass wir uns sehr bemühen, das Vakuum des daddylessness durch neue Blüten, Blätter und Äste zu füllen. Das ist gut so und eine wissenschaftlich basierte Therapie braucht das – aber obwohl wir so viele Frauen sind, fehlt mir doch ein wenig das Weibliche in der Musiktherapie: mir fehlt die Pflege, die Nahrung, das Sorgetragen. Ich habe Sorge, dass wir vergessen, uns den großen Fragen zu stellen: was ist der Mensch? Was braucht der Mensch? Ohne diese Fragen werden wir seelenlos! In diesen instabilen Zeiten leiden unsere Patient_innen mehr als je zuvor an existenzbedrohenden Gefühlen. Sie sind mehr denn je bewegt von den großen Fragen nach dem Sinn ihres Lebens. Post-Corona wird nie mehr Prä-Corona sein. Sie haben das Recht, mit Therapeut_innen zu arbeiten, die sich ebenfalls mit diesen Fragen auseinandersetzen. Sie haben das Recht, mit einem therapeutischen Verfahren behandelt zu werden, welches nicht wegschaut. In einer Zeit der kurzgreifenden und scheinbar effizienten Lösungsangebote haben wir die Chance, uns weiterzuentwickeln. Und da ist noch sehr viel Luft nach oben!
Wir haben einen sehr guten community effect erarbeitet: wir kommunizieren miteinander, wir tauschen uns aus, national und international. Haben wir auch eine Konfliktkultur? Ich denke mir oft, dass wir bei unserem rasanten Wachstum ein wenig darauf vergessen haben.
Folie 33: Photo Paukenpartnerspiel
Das bringt mich zu Allerletzt zum Paukenpartnerspiel nach Schmölz: Das Paukenpartnerspiel ist das Beispiel par exellence für eine gelebte Philosophie. Der Philosophie des Miteinanders, einer gesunden Konfliktkultur, des Entdeckens eigener und fremder Grenzen, des Mutes und der Schwäche, des Schuldgefühls und der Verantwortung, etc. Dahinter verbergen sich geistige Welten, die für uns und unsere Patient_innen existentiell sind. Wenn wir während unserer musikalischen Handlungen mit diesen Welten in Kontakt sind, dann, so meine ich, haben wir der Musiktherapie eine Seele gegeben. Und dann sind wir auch ein wenig "Wiener Schule". Der Tree of Science lässt uns verstehen, dass die Dinge auch immer in einen Zusammenhang mit Etwas, wenn sie so wollen, etwas Größeren zu betrachten sind: Auch Techniken und Methoden können kontextbezogen bezogen sein.
Folie 34: Hänsel und Gretel wie Folie 6
Hänsel und Gretel haben ein Tabu gebrochen und es überlebt! "Geht nicht in den Wald". Und Adam und Eva haben ein Tabu gebrochen: "Esse nicht von diesem Bau!" Sie haben uns dadurch einen Haufen Mist beschert, der uns aber auch hat wachsen lassen. Unsere Pionier_innen haben auch ein Tabu gebrochen: sie sind quasi mit nichts als ihren musikalischen Fertigkeiten in eine medizinische und hochkomplexe Welt eingedrungen, die sie nicht kannten und ich weiss, dass einige von ihnen diese bis zum Schluss nicht begreifen konnten. Einige waren geduldet, andere erfuhren immerhin eine Wertschätzung zu Lebzeiten. Ähnlich blind und naiv wie Hänsel und Gretel. Dass sie nicht verloren gingen, ist zunächst einmal ihrem Überlebenswillen und ihrer unermesslichen Sturheit zu verdanken.
Meine Empfehlung an alle von uns: verlieren wir die existentiellen Grundbedingungen der Menschen nie aus den Augen und werden uns bewusst, dass Musiktherapie auch, oder vor allem, eine angewandte Geisteswissenschaft ist.



Verwendete Literatur
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Fitzthum, E. (2021). Die Entstehung der Musiktherapie im Kontext der Klavierpädagogik des 20. Jahrhunderts. In H. Riedl (Hrsg.). "Wollen Sie wirklich spielen?" Alfred Schmölz und die Wiener Musiktherapie – kommentierte Quellentexte. Wiener Beiträge zur Musiktherapie Bd. 13. Wien: Praesens.
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Fronsburg, im Oktober 2021 Dr. Elena Fitzthum

 

 

 

 

 

Teil I


Ich lade sie heute zu einer kleinen Reise ein. Wir beschreiten gemeinsam den Weg der Musiktherapie und begeben uns auf die Suche nach ihrer Seele. Dann springen wir zur Psychotherapie, entdecken Wertvolles, welches in ihrer Binnenstruktur schlummert. Es ist dies eine Reise, die uns alle betrifft. Und es ist eine Reise, bei der ich mir erlaubt habe, angesichts meiner Abschiedsvorlesung, ein klein wenig Persönliches einzustreuen.
Bevor wir starten, packe ich meine kleine Provianttasche, nehme meine Erinnerungen mit und Marcel Proust. Er war d e r Meister der Erinnerung. Kein anderer konnte so wie er in die Vergangenheit reisen. Sein Werk „Recherche du temps perdu“ setzt sich mit dem auseinander, was wir dazu brauchen: der Fähigkeit des sich Erinnerns, wobei er die zufällige Erinnerung, die „Memoire involontaire“ zu einer der wichtigsten Befähigungen des Menschen zählt. Und ähnlich wie bei Nietzsche ist diese Art der Erinnerung, die einen „anfliegt“, also nicht kognitiv beabsichtigt werden kann, dasjenige, was die Kunst ausmache. Kunst, nicht im herkömmlichen Verständnis, sondern Kunst als ein erfahrbares, sinnliches und wertvolles, weil seltenes Produkt der menschlichen Seele. Nicht umsonst schrieb Peter Petersen 2000 über die Dyade, die wir doch alle kennen sollten: Der Therapeut als Künstler. Den Text der berühmten Madeleinen-Episode von Proust liest Ulli Scherer, meine ehemalige Kollegin von der Schauspielschule Kraus, auf der wir beide einmal arbeiteten. Ich lasse sie mit dem Inhalt dieses Textes alleine. Wenn sie ihn in die Gedanken meines Vortrages integrieren können, so ist das fein. Wenn nicht, dann bitte genießen sie und tun das, was Alfred Schmölz immer von uns wollte: „Lauschen Sie!“. Ergänzung von mir: Und achten sie auf ihre „memoire involontaire“.
Folie 3: Marcel Proust
Nehmen wir gleich zu Beginn eine kleine Erfrischung aus unserer Provianttasche und während wir voranschreiten, gehen wir gleichzeitig zurück. Der Wille trägt uns nach vorne, die Erinnerung geht zurück. Beide starten im Hier und Jetzt:

Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.  
Wir beginnen weit entfernt von dem, was wir Heute nennen, wir beginnen in der vermuteten Vergangenheit der heilenden Handlungen mit Musik und nennen das Kapitel:

Die lange Reise einer Profession namens Musiktherapie

Folie 4: Wegweiser Musiktherapie
Musiktherapie ist weder das Ergebnis eines Urknalles noch entstammt sie der Gedankenwelt eines Gründervaters oder einer Gründermutter. Soviel steht fest! Und doch wird gemunkelt, dass die Musiktherapie, respektive das bewusste Arbeiten mit Musik zu heilenden oder sonstigen Zwecken sehr, sehr alt sei!
Folie 5: Knochenflöte
Der Fund der bis dato ältesten Knochenflöte lässt Großes für unsere Profession erahnen: Knochenflöten sind die ältesten archäologisch nachgewiesenen Musikinstrumente der Menschheit.  Funde dieser Art reichen bis ins Aurignacien, einer Kultur der europäischen Altsteinzeit. Hier sehen sie einen Fund von 2009; einer gut erhaltenen, aus dem Flügelknochen eines Gänsegeiers gefertigten Flöte aus der Hohle Fels (Name der Höhle) auf der Schwäbischen Alb. Sie ist ca. 42.000–43.000 Jahre alt ist.
Sind jetzt die Vorläufer heutiger Musiktherapie auch so alt? Wir dürfen es vermuten, wissen tun wir es nicht. Eingekerbte Holzstücke, über die man mit einem kleinen Ast fährt und so einen Rhythmus erzeugt, haben genau so wenig die Zeiten überlebt wie die auf hohlen Baumstämmen aufgespannten Felle.
Wir wissen viel zu wenig über die Jahrtausende währenden Praktiken derjenigen, die vielleicht heute unsere Kolleg_innen wären: die der Priester_innen, der Schaman_innen, der Heiler_innen aller Art, derer, die aufgrund bestimmter Fähigkeiten eine besondere Rolle innerhalb ihrer Gesellschaft hatten, und trotzdem wegen ihrer Sonderbegabungen oft am Rande ihrer kleinen sozialen Welt leben mussten.
Folie 6:  Hexenhaus – Hänsel und Gretel und Hexe im Wald vor dem Hexenhaus
Der Weg zum Schamanen konnte auch mal beschwerlich sein und man trat ihn sicher mit gemischten Gefühlen an. Unsere Märchen berichten noch heute davon, wie gefährlich ein Weg durch den ach so dunklen Wald war, in dem es immer wieder Tabu-Zonen gab. „Wenn du da oder dahin gehst, wird dich großes Unheil treffen!“ Der Parcours zwischen vermeintlichen Gefahrenzonen …, darin lag wohl auch ein Wirkfaktor, den wir heute nicht mehr zu schätzen wissen. In den Kliniken wird zugewiesen und verordnet, und die Therapie findet dann gleich auf derselben Etage statt. Die in freier Praxis arbeitenden Musiktherapeut_innen wissen allerdings, dass alleine a) der Entschluss und b) das Beschreiten des Weges in ihre Praxis eine wichtige und mit den Patient_innen zu besprechende Handlung darstellt – ein erster Schritt zu Heilung sozusagen! Das Beschreiten des Weges zu ihnen impliziert ja immer auch eine Entscheidung – eine mögliche Überweisung tritt in den Hintergrund, wenn man vor ihrer Türe steht.
Aber vielleicht verbindet uns noch mehr mit unseren frühen Kolleg_innen. Denken wir doch einmal daran, dass diese auch für die Unterstützung bei Übergängen in neue Funktionen innerhalb der Gemeinschaft - wie bei den Ritualen zur Feier der Geschlechtsreife, zuständig waren. Wie oft leisten wir heute noch Hilfe bei diesen Übergängen. Die Orte haben sich verändert, wir sitzen nicht mehr in der Höhle oder im Baumkreis. Wir nennen das heute z.B. Kinder- und Jugendpsychiatrie, oder Geriatrie, oder Hospiz. Frühe Heiler_innen, die mit Musik arbeiteten, sorgten für notwendige Verbindungen: entweder halfen sie, zwei entwicklungspsychologisch aufeinanderfolgende Perioden miteinander zu verbinden, wie z.B. die Pubertät mit der fortschreitenden Adolszenz oder das Alter mit seiner Nähe zum Tod, oder sie schafften eine Verbindung zu verstorbenen Ahnen oder Mächten. Sie können sich nun fragen, ob sie in ihrer Arbeit nicht auch so eine Verbindungsmanager_in sind. Da fällt mir der geniale Satz von Fritz Perls ein, den er freilich auf die psychotherapeutische Arbeit mit den neurotischen Menschen des 20. Jahrhunderts bezog. Auch hier schaffen wir Verbindungen, in dem wir Verdrängtes und Abgespaltenes oder einfach auch nur Ungeliebtes mit dem Selbst verbinden helfen. Er sagte: (Gestalt-) Therapie „should heal the seperate!“.
Folie 7: Tarantismo (Photo aus Film der RAI 1962)
Die bis ins späte 20. Jahrhundert verbreitete Zeremonie des Tarantismo ist so ein Relikt aus alter Zeit. Diese Austreibungszeremonie war bis in die 1960er- Jahre in Süditalien anzutreffen und ihre Wurzeln liegen vermutlich in der antiken Magna Graecia, stehen also aller Wahrscheinlichkeit nach im Zusammenhang mit damals üblichen Praktiken des antiken Griechenland (Ernesto De Martino, 2015).
Folie 8: Tarantismo (Photo aus Film der RAI 1962)
Die letzten Filmaufnahmen, die die RAI 1962 machen konnte, zeigen eindrücklich, wie sensible dörfliche Laienmusiker mit ihren Instrumenten die vermeintlich von einer Tarantel – meistens eine in die Schamlippen gebissene Frau - bei der Austreibungszeremonie musikalisch begleiteten. Übrigens: diese Anwendungen fanden öffentlich statt. Henry F. Ellenberger schrieb 1970 in seinem Werk „Die Entdeckung des Unbewussten“, dass früher nur in Anwesenheit des Clans Schamanismus betrieben wurde. Nichts mit Verschwiegenheitspflicht! Schamanistische Rituale waren öffentlich, so wie beim Tarantismo, wo alle Nachbarn zusammenfanden. Es wäre eine spannende Frage, ob das, was wir heute als schützenden Raum im Rahmen unserer Arbeitsplätze anbieten, vielleicht früher die Familie oder die Sippe war. Das wäre dann schon wieder eine eigene Vorlesung wert!

Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man 'Madeleine' nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt.

Wir befinden uns noch immer im prä-institutionellen Kontext. Ich zitiere hier Manuela Schwartz (2004) und schließe mich ihrer Meinung an: „Alle genannten und ungenannten Beispiele bis ins 19. Jahrhundert hinein stellen Vorläufer moderner Musiktherapie und ihrer Theorie dar, ohne jedoch aus einem eigenen musiktherapeutischen Verständnis und Ansatz heraus entstanden zu sein.“
Ab dem 18. Jahrhundert wird die Geschichte der Musiktherapie ein wenig langweiliger, mehr säkularer, aber auch exakter abbildbar. Nach Jahrtausenden der uns heute befremdenden Praktiken landen wir nun bei den psychiatrischen Behandlungen in Anstalten der westlichen Welt. Wir sind in der Epoche der Aufklärung (1720-1800). Moralische und philosophische Ansichten des verstandesgemäßen und tugendhaften Handelns durchziehen ab nun die Literatur, denken sie mal an Gustav Flaubert oder Charles Dickens; oder an Robinson Crusoe, der seinen Freitag erzieht, damit er jemanden hat, der würdig ist, die Einsamkeit mit ihm zu teilen, oder denken wir an den qualvollen Weg des Pinocchio, der unbedingt Mensch werden wollte, um so seinem „Vater“ Geppetto zu gefallen. Ein Buch übrigens, dass meine Kindheit geprägt hatte. Und vergessen wir nicht René Descartes` „Ich denke, also bin ich“. Die Regungen des Gemütes dürfen gleichberechtigt neben der Ratio stehen und die Epoche der Romantik nahm ihren Lauf. Und siehe da, plötzlich besann man sich des Potentials der damals bekannten konzertanten Musik, der man große Wirkung nachsagte. Musik für das Gemüt! Musik, die Holde! Und in dieser Epoche treffen wir vermehrt auf eine Verbindung von Instrumentalist_innen mit Medizinern. Letzte Gruppe von Personen muss ich ja nicht gendern!
Was war geschehen? Im bürgerlichen und aufgeklärten Europa des 18. Jahrhunderts begann man zunächst, Patient_innen in Anstalten ein wenig musikalische Zerstreuung anzubieten (Schwartz 2012a und 2012b, Korenjak 2020). Man muss hinzufügen: einem gut zahlenden Patien_innenkreis in der „Sonderklasse“ der Heilanstalten!
Folie 9: Konzertsaal
Aber immerhin: in hübsch ausgestatteten Räumen, die oft Kopien der Prunkräume privater Palais, bzw. Wohnungen waren, spielte man den etwas „besseren“ Kranken auf. Dass sich im Laufe dieser Praxis aus einem Abwägen – welches Stück passt nun zu welcher Patient_innengruppe – also sich vom Trial zum Error erste vage Indikationen und Behandlungsziele herausbildeten, war der Zusammenarbeit von Medizinern mit erfahrenen Musiker_inne geschuldet (Fitzthum, 2021).  
Folie 10: Klinik auf Blackwell´s Island
Ein Artikel über ein sogenanntes Experiment in einer Psychiatrie in New York, Stichwort Blackwell´s Island (Blackwel´s Island ist eine Insel im East River), zeigt, dass man hier ähnlich wie in Mitteleuropa vorging: ausgebildete Musiker_innen - ich vermute: arbeitslose Musiker_innen - spielten ausgesuchten Patient_innen vor, Ärzte supervidierten diese Experimente, evaluierten sie, und im Minimum galt: „Musik hilft, Patient_innen zu beruhigen, oder Musik hilft, die Patient_innen zu aktivieren!“ So entstand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine stattliche Indikationsliste und an öffentlichem Interesse schien es auch nicht zu fehlen.
Folie 11: Zeitungsausschnitt der NYT
Die New York Times brachte am 25.3.1878 einen Artikel dazu heraus mit dem Titel „Music in Therapeutics“, Untertitel „Its Effects on Maniacs“. In diesem Artikel bezieht man sich selbstverständlich zunächst auf unseren Kollegen David aus dem Alten Testament (diese Tradition sollte sich auch bei unseren Schreibenden bis in die 1970er Jahre halten), es wird aber auch deutlich, dass die Not in den Heilstätten sehr groß war. Die Verweildauer erstreckte sich oft über ein ganzes Patient_innenleben und der Verbrauch an Drogen, oder sagen wir, an ersten und nebenwirkungsreichen Medikamenten war enorm und manchmal tödlich. Zudem musste man den Patient_innen der Sonderklasse etwas für den oft enormen Aufpreis bieten. Da war man schon erfreut, wenn der ein oder andere Patient besser über die Nacht kam.
Allmählich entwickelte sich in den USA ein neues Jobprofil: der des musikalischen Supervisors. Er/sie stand allen tätigen Musiker_innen einer Abteilung oder einer Klinik vor und teilte diese ein. Bei ihm/ihr liefen alle relevanten Informationen zusammen und bald konnte man neu einsteigenden Musiker_innen sagen, welche Musik bei welchen Symptomen vermutlich hilfreich sei.
Folie 12: Erste Indikationen – Flipchart aus meiner Vorlesung „Geschichte der Musiktherapie“
Wichtige Pionier_innen der USA hielten diese Funktion inne: die Pianistin Harriet Ayer Seymour; der Harfenist Willem Van de Wall und die Sängerin Eva Vescelius, aber auch Nordoff & Robbins. Dies war gleichzeitig ein erster Schritt in Richtung Institutionalisierung.
Ich denke, wir brauchen wieder ein wenig Wegzehrung, wir kommen zum Kernstück der berühmten Madeleinen-Szene:

Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.

Wir kommen nach Wien und zum Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Hier wird es für uns aus der Wiener Schule der Musiktherapie wieder interessant. Diese aus heutiger Sicht unfassbar spannende Zeit, eine Periode der Umbrüche, aber auch einer Zeit des Nebeneinanders von bald nicht mehr angesagten großbürgerlichen Attitüden bei gleichzeitiger Moderne einer hungrigen Jugend prägte nachhaltig jene frühe Kolleg_innen, die ich als „frühe Protagonist_innen der Musiktherapie“ bezeichne. Sie wirkten noch in einem prä-institutionellen Raum. Die von mir erwähnte Periode wurde posthum in der Kunst als Wiener Moderne bezeichnet (ca. 1890 – 1920), gleichzeitig kann man auch von der Zeit der Lebensreformbewegungen reden, die hier begannen. Dieser Zeit entstammten auch die wichtigsten Begründer psychotherapeutischer Verfahren, allen voran Sigmund Freud, der 1900 mit seiner Traumdeutung ins Rampenlicht rückte. Es war die Zeit vieler großer Persönlichkeiten und Wien war der Ort, der sie inspirierte und ihr Schaffen vorantrieb: Victor Adler, der Begründer der Sozialdemokratie, Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, die Schriftsteller Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Alfred Polgar, die Musiker Gustav Mahler und Arnold Schönberg; die Maler Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele; die Architekten Otto Wagner und Adolf Loos. Das Schaffen kunsthandwerklicher und bildnerischer Künstler wurde gebündelt in der Wiener Werkstätte und der Wiener Secession. Letztere prägte einer nach Bildung und Lebensreformen hungernden Jugend, die die verstaubten Ideen des Fin de Siécle der Elterngeneration hinter sich lassen wollten, mit dem Logo „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“.
Folie 13: Schiele - Beispiel der neuen Sicht auf den Menschen
Die Sicht auf den Menschen veränderte sich; er wurde als verwundbar interpretiert (Schiele) und als derjenige, dessen gesellschaftliche Herkunft gleichzeitig sein erbarmungsloses Schicksal begründete (Schnitzler). Die Gesetze der Musik wurden auf den Kopf gestellt (Schönberg) und Adé du schöne imperiale Architektur (Loos).
Der Zerfall der Habsburger Monarchie 1918 und die Verwundeten des Ersten Weltkrieges waren plötzlich sichtbar. Und trotzdem: im immer noch existierenden gut geschmierten Räderwerk aus Fortschritt, Moderne, Kunst und Philosophie, Medizin und Forschung gab es wenig Berührungsängste. Vor allem die Wiener Mediziner, aus „gutem Hause“ kommend, waren musikalisch sozialisiert und zeigten auch bei ihrer klinischen Arbeit eine hohe Affinität zum Musizieren. So lud der studierte Mediziner Arthur Schnitzler die später in die USA geflohene Musiktherapeutin Felic Wolmut des Öfteren zum gemeinsamen Musizieren ein. Dieses Beispiel gelebter gesellschaftlicher Beziehungen im Wien der 1920er- und 30er Jahre verdanken wir unserer Studentin Mira Hüsers und ihren Recherchen für ihre Diplomarbeit „Sehnsuchtsort Musiktherapie“.
Ich muss hinzufügen, dass ich soeben einen sehr verklärten Blick auf die Geschichte Wiens gemacht habe. Es gab auch Schattenseiten: immense Not, Armut und soziale Ungerechtigkeit! Aber für diese Menschen war Kunst und Therapie sowie nicht gedacht.
Aus zuvor beschriebener Epoche stammen wichtige Protagonistinnen der Musiktherapie. Hätte es nicht den Nationalsozialismus ab 1933 gegeben, so hätten auch wir in Wien vor der Mitte des 20. Jahrhunderts wie in den USA mit der Musiktherapie gestartet. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die meisten der von mir eben erwähnten Namen jener Personengruppe angehörten, die man heute als die assimilierten Juden Wiens bezeichnen würde. Ihre Vorfahren waren irgendwann zum christlichen Glauben konvertiert und bildeten in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Wien innerhalb des Großbürgertums eine kunst- und wissenschaftsaffine Gruppe. Wer es aus dieser Gruppe nicht schaffte, ab 1938 zu fliehen, wurde ermordet. Wir wissen nicht, wie viele potentielle „Kolleginnen“ von uns ermordet wurden, wir könne nur die Biografien derjenigen aufarbeiten, denen die Flucht gelang und die in der Diaspora musiktherapeutisch arbeiteten.
Folie 14: Vally Weigl (Photo)
Die 1938 nach New York geflohene Musiktherapeutin Vally Weigl war Gegenstand meiner Dissertation aus dem Jahr 2004.
Folie 15: Felice Wolmut (Photo)
Hier sehen sie die eben erwähnte Felic Wolmut, auch sie floh 1938 in die USA.
Ich vermute, wir brauchen eine kleine Zwischenjause:

Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen.

Manuela Schwartz stellte 2004 die Frage: „Gibt es überhaupt bereits eine schon zu bearbeitende, im kollektiven Gedächtnis der hier Anwesenden verankerte Geschichte der Musiktherapie?“ Ich ergänze: „… der Zeitspanne zwischen 1933 und 1945?“
Nur, weil die Musiktherapie das Glück hat, ihren institutionellen Beginn in Europa auf nach 1945 datieren zu können, möge man aufhören zu glauben, unsere Disziplin habe nichts mit den grausamen und menschenverachtenden Machenschaften zwischen 1933 und 1945 zu tun. Die Gnade der späten Geburt als Ausrede für Geschichtslosigkeit einer ganzen Disziplin? Als ich in Wien studierte, fiel mir sofort auf, dass es über die besagte Zeitspanne kaum etwas zu berichten gab? Man erwähnte immer wieder, dass wir unsere Disziplin vermeintlich aus den USA importiert hätten. So war es aber nicht. Heute reden wir von einer musiktherapeutischen Community in den USA nach 1940, in der auch unsere geflohenen Vorgängerinnen mitwirkten.
Folie 16: Buch Hrsg.Teirich
Und es gab mehr Wiener Geflohene als Vally und Felice. So z.B. das Ärztepaar Dr. Martha Brünner-Ornstein und Dr. Frank E. Ornstein, beide publizierten 1958 im immerhin damals einzig seriösen Buch über Musiktherapie, herausgegeben von H.R. Teirich, unter dem Doppelnamen Dr. M. und Dr. F. Brunner-Orne ihren Artikel „Englische Handglocken und ihre Verwendung in der psychiatrischen Klinik“. Wie viele Kolleg_innen haben seitdem dieses Buch in der Hand gehabt und sich nicht gewundert, dass beide laut Autor_innenabgaben von S. 185 1938 in die USA „ausgewandert“ sind?! Hinter vielen Namen unserer frühen Community verbergen sich Schicksale. Wieder eine Vorlesung! Das wir während meiner Ausbildung noch in Räumen von Kliniken mit teilweise ruhmloser Vergangenheit unsere Praktika absolvierten, wo ich heute lieber nicht wüsste, was dort in den ehemaligen Kinder- und Jugendabteilungen während des Krieges geschehen ist, war nicht einfach für uns. Mit ein Grund, warum ich in meinem Jahrgang die einzige war, die in diesem Beruf gearbeitet hat.
Als ich 1973 mit dem Studium hier in diesem Hause anfing, hing der modrige Geruch der Vergangenheit noch ein wenig in der Luft – selbstverständlich, ohne, dass je darüber geredet wurde. Unser Geschichtsbewusstsein pendelte von David über Pythagoras zu den USA des 20.Jahrhunderts.  
Dies alles ist wichtig zu wissen, denn es erklärt die anfängliche Orientierungslosigkeit unserer Gründerjahre ab 1959. Kaum Kontakt zum Ausland, keinen wie immer gearteten Kontakt zur Psychotherapie, Pionier_innen, die fast alle aus dem Dunstkreis der Anthroposophie kamen und das über allem schwebende Narrativ von David mit der Harfe – eine seltsame Mischung für die Gründerphase. Dazu ein merkwürdiger Mann, der Alex Pontvik hieß und über die ordnenden Kräfte der Bach´schen Musik zu berichten wusste, wohl aber wenig klinisch bewandert war.
Aus was setzte sich nun unsere Pioniergeneration in Wien zusammen? Ab 1959 war man Musiker_in, vorzugsweise Musikpädagog_in, nicht jüdisch, mit Überhang zur Anthroposophie, glaubte an die Wirkung von Musik und hatte bestenfalls einen prägenden Instrumentalunterricht bei einem/einer Reformpädagog_in. Die, die mit einer gewissen Kontinuität die Behandlung mit Musik hätten fortführen können, waren geflohen oder wurden ermordet und die meisten unserer potentiellen Patent_innen fielen der Euthanasie zum Opfer. Eine tolle Mischung, oder? Viel mehr gab es nicht. Da war viel Raum für Irrationales und, so vermute ich, viele Schuldgefühle!
Folie 17: Titel Diplomarbeit Rhythmus
Es begann die Zeit, in der man/frau sich mit der vermeintlichen Wahrheit half, dass es etwas gäbe, was uns alle miteinander verbinde, z.B. den Rhythmus mit seinen ordnenden, gemeint waren: disziplinierenden Kräften! Ein übrigens aus der Propaganda des Nationalsozialismus – und schon zuvor aus der Weimarer Republik - schwer missbrauchtes musikalisches Phänomen!  Thomas Luckmann schrieb 1991 (1967) von den „unsichtbaren Religionen“, einer Religion ohne Kirche und die zunehmend marktorientiert ist. Die Musiktherapie ist gefordert, immer wieder darauf zu achten, dass sie sich nicht solcher bedient! Das wäre eine andere Vorlesung, aber auch sehr spannend!
Folie 18: Editha Koffer-Ullrich (Photo)
Also zurück ins Wien von 1959. Hier taucht die emsige Netzwerkerin und Violinistin Editha Koffer-Ullrich auf, die Mitbegründerin und erste Leiterin der Wiener Ausbildung (1959 – 1969). Sie bemühte sich zwar in Gegenwart der Ärzte um Wissenschaftlichkeit und Seriosität, jedoch Sätze aus einem von ihr angedachten und geplanten – aber nie realisierten Forschungsprojekt lassen aufhorchen. Sie verdeutlichen, welche Themenfelder sie beforschen wollte:
Folie 19: Abschlussarbeit Koffer-Ullrich
„Zu untersuchen sind die Wirkungszusammenhänge zwischen der natürlichen Erdschwingung im Frequenzbereich von rund 10 Hz (…) und dem Pflanzenwachstum, sowie die Wirkungen einer Zufuhr künstlich erzeugter Schwingungen in anderen Frequenzbereichen und anderen Amplituden auf das Jugendwachstum der Pflanzen.“ Diese Art der Forschung stand in Verbindung mit dem damaligen an der mdw beheimateten Institut für Harmonikale Grundlagenforschung.
So passte es lange zu dem Selbstbild damaliger Musiktherapeut_innen, einer ganz und gar besonderen Heilkunst zu dienen. Manchmal, wenn unsere Pionier_innen von ihrer Arbeit redeten, hatte das so etwas Heiliges und Geheimnisvolles. Nicht bei allen natürlich! Kein Wunder, dass die damaligen Ärzte, die uns begleiteten, unser Potential erkannten, aber auch wussten, dass man dieses „bunte Völkchen“ ja nicht alleine lassen durfte (wörtlich Raoul Schindler). Seltsam, irgendwie brauchte man uns wohl und wir blieben und wuchsen. Das Narrativ vom ersten Musiktherapeuten David blieb bis in die 1970er- Jahre. Ich persönlich erlebte diese Zeit der 1970er- und 1980er Jahre als Jahre des Suchens nach etwas, das man herzeigen konnte um einen festen Platz in den klinischen oder heilpädagogischen Teams zu erhalten. Jedenfalls wollten wir mehr als nur Singtanten sein.   
Folie 20: Schmölz
Dass sich mit dem Auftritt von Alfred Schmölz, der 1970 den damaligen Lehrgang Musiktherapie übernahm, eine deutliche und vor allem für die begleitenden Ärzte sichtbare Abkehr von Esoterik jeglicher Art vollzog, davon soll anlässlich unserer Buchpräsentation am 9.12.21 in diesem Haus die Rede sein. Nur wer die Geschichte v o r Schmölz kennt, weiß die Leistung dieses Mannes zu schätzen und zu würdigen. Durch ihn und die begleitenden Ärzte wurden erste Grundsteine zu einem psychotherapeutisch orientierten Verfahren gelegt. Es geschah der bislang wichtigste Paradigmensprung, der uns das (Über-) Leben sichern sollte. Und um ihn ein einziges Mal mit Sigmund Freud zu vergleichen: durch ihn wurde die Musiktherapie ein Kind der Aufklärung. Davon jedoch mehr am 9. Dezember.

Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann. Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt.

In der Folge wurde es zur Überlebensfrage, ob wir die Musiktherapie auf das Fundament einer einheitlichen und stringenten Forschung und Theorie heben konnten. Schmölz tat einen ersten Schritt in diese Richtung: ab 1970 hatten sich er und die meisten der begleitenden Ärzte dazu entschieden, die Psychotherapie als neue Leitdisziplin zu integrieren. Mit diesem Schritt waren wir meines Wissens nach die ersten weltweit, die sich dazu entschlossen haben und dies bis heute konsequent verfolgen.
Ich verzichte darauf, all das aufzuzählen, was wir seit 1959, oder sagen wir, seit 1970 geleistet haben: wie wir uns mit einem höchst engagierten Tun und vielen Versuchen und Irrtümern an das heutige Lehrgebilde „Musiktherapie“ herangearbeitet haben. All dies wird publiziert, gelehrt, bei Kongressen vorgetragen und in internationalen Arbeitskreisen diskutiert. Nicht zu vergessen: unser Engagement im Ausland. In der Zwischenzeit ist die Musiktherapie zu einer Profession herangewachsen, für die man sich nicht mehr schämen muss. Achtung und Würdigung von allen Seiten, auch in unserem Hause übrigens, ermuntern uns, an unserem theoretischen und klinisch-praktischem Gebilde weiter zu arbeiten. Und so wurde die Wiener Schule zu etwas, worauf man stolz sein darf! Worauf sie, verehrte Studierende, stolz sein dürfen.  

Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn, ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.  

Betreten wir gemeinsam einen neuen Pfad und nehmen die Erkenntnis mit, dass Musiktherapie aus einem Nebel von Mythen und Versuchen entstanden ist und durch den Nationalsozialismus tiefe Wunden erfahren hat, auch wenn es uns da nicht gab – ein Paradoxon, aber keine Ausrede.
Folie 21: Wegweiser Psychotherapie

Teil II

Psychotherapie
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit der Psychotherapie machte ich 1978. 1977 hatte ich die Musiktherapieausbildung hier im Hause abgeschlossen und war gerade für einige Semester Studentin am Max Rheinhardt Seminar in Wien. Zusätzlich besuchte ich für zwei Jahre eine gestalttherapeutische Jahresgruppe. Und ich begann zu verstehen, dass neben dem expressiven Teil meiner Persönlichkeit mir noch etwas gefehlt hatte: Hinter den einzelnen Interventionen meines Gruppenleiters verbargen sich: eine Weltanschauung, eine Haltung zum Gegenüber und viel Bereitschaft, Konflikte mit uns auszuhalten. Mir war sofort klar: Wenn mein Weg hier weiter gehen sollte, dann musste ich mir über Fragen Gedanken machen, die ich in der Musiktherapie immer vermisst hatte: Was ist der Mensch? Was ist die Welt? Und welche Haltung befähigt mich, einem anderen Menschen gegenüber zu treten um ihm helfen zu können? Diese Fragen begleiten mich bis heute; glücklich, wem sie egal sind. In meiner ab 1986 begonnen Gestalttherapieausbildung habe ich gelernt, ohne Selbstzensur über vieles nachzudenken. Widersprüchliches und Provokantes hatten plötzlich Platz und wurden zu etwas, das man auch den Patient_innen zumuten durfte. Lichtgestalten wie Martin Buber, Hannah Arendt, Max Weber und Claude Lévy-Strauss begleiteten mich intellektuell. Nun verstand ich all die Existentialisten, deren Werke ich bereits als Jugendliche verschlungen hatte: Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus. Ich begann zu verstehen, dass es da draußen keinen großen Plan gab, dass jeder Mensch Verantwortung für sein Leben übernehmen müsse – in letzter Konsequenz auch unsere Patient_innen. Ich war also mit einem Fuß im Existentialismus angekommen und ich wurde zur Gestalttherapeutin.
Warum ich ihnen das erzähle? Weil das alles etwas mit Therapie zu tun hat! Und hoffentlich auch mit Musiktherapie. Davon später!
Ein Blick in die Geschichte der Psychotherapie
Die Psychotherapie war zuerst da. Dies ist unbestritten, wenn wir von ihr als institutionalisiertes und im Gesundheitssystem verankerten Behandlungssystem reden. Psychotherapeutische Verfahren, wie wir sie heute kennen, sind historisch gewachsene Gebilde mit komplexen Theorie- und Regelwerken, welche sich zwischen Psychologie, Soziologie, Medizin, Neurobiologie, Ethik und Philosophie positioniert haben. Manches Mal wundert man sich, dass Psychotherapie in der Praxis nach wie vor ein individuell auf die Persönlichkeit der jeweiligen Patient_innen abgestimmtes Arbeiten bedeutet. Das dahinterstehende Regelwerk ist für die zu Behandelnden nicht oder wenig erkennbar. Böse Zungen mögen ja behaupten, dass wir im Sitzen und mit ein wenig Reden unser Geld verdienen.
Die Psychotherapie hat den Vorteil, dass sie sich auf einen Gründervater beziehen kann; sein gesamter Werdegang, die sozio-kulturellen Hintergründe seines Werkes, seine Lehrmeister, ja selbst die Liebesbriefe an seine Frau Martha Bernays sind uns bekannt. Gemeint ist Sigmund Freud, der nach einem Wiener Medizinstudium während vier Wintermonate (1885–-1886) in Paris bei Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière wichtige Studien machen konnte und dann, wieder in Wien zurück, mit Hilfe von Josef Breuer seine ersten Gedanken zum Thema Hysterie niederschrieb. Geliebt und gehasst, heute im Olymp der Unsterblichkeit; 1933 die öffentliche Verbrennung seiner Bücher erlebend, 1938 vor den Nazis mit 82 Jahren nach London geflohen, um dort 1939 „in Ruhe zu sterben“.
Folie 22: Zitat Fromm
Erich Fromm nannte ihn den letzten Vertreter des Rationalismus: „In seinem Laboratorium, in dem er sich einzig auf Beobachtung, Vernunft und seine eigene Erfahrung als Mensch verläßt, macht er die Entdeckung, daß geistig-seelische Erkrankungen nur im Zusammenhang mit moralischen Problemen verstanden werden können (…). Der Analytiker ist weder Theologe noch Philosoph und erhebt keinen Anspruch auf Kompetenz auf diesen Gebieten.“ (Fromm, 1979, S. 15).
Besser kann man es nicht sagen! Sehen sie, hier liegt der wesentlichen Unterschied zur Musiktherapie, und dieser Unterschied liegt in beider Geschichte verborgen: 
Der Gründervater der Psychotherapie war also ein lupenreiner Vertreter der Aufklärung. Er räumte mit jedem Hokuspokus auf, er erkannte, dass es unerforschte Neigungen i n  u n s gäbe, die wir nicht zu steuern vermögen. Die seelischen Erkrankungen des Menschen sind nicht der Macht der Götter geschuldet, sondern sie sind individuellen Ursprungs. Sie zu analysieren, bedeutet, die Kellerstiegen unserer Kindheit hinabzuschreiten und zu ergründen, unter welchen moralischen Ansprüchen der Mensch sich entwickeln konnte – oder eben nicht. Freud unterschied explizit seine Arbeit von der seiner „Vorgänger“, den Priestern und betrachtete die Religionen sehr kritisch. Deren Ursprung sah er in der Unfähigkeit des Menschen, sich mit seiner Hilflosigkeit den gewaltigen Naturkräften gegenüber auseinanderzusetzen. Erst mit der Entwicklung von Vernunft und durch ein Wissen über bedrohliche Vorgänge außerhalb seiner häuslichen Welt (Wetterphänomene, Krankheiten, Tod, Corona?!, etc.) konnte so etwas wie Freiheit bzw. Unabhängigkeit vom Glauben an die allmächtige Kraft entstehen. Je mehr der Mensch über seine existentiellen Bedrohungen w u s s t e, umso weniger musste er sich fürchten und in eine Illusion (Fromm, 1979, S. 21) zurückfallen, die aus frühen Kindheitstagen stammte und ihn immer daran erinnerte, dass, wenn er gehorche, der gute Vater ihn beschützen würde.
Die Priester verlangten Gehorsam. Kaum vorzustellen, dass im alten Ägypten ein Mensch aus dem Volk mit einem Priester darüber diskutiert hätte, dass das gewünschte Opfer für ihn zu groß sei, ein halbes Schaf täte es doch hoffentlich auch. Oder eine kleine Diskussion am Orakel von Delphi? Themis in der Rolle der Pythia prophezeit dem Aigeus einen Sohn und dieser meint, er hätte aber lieber eine Tochter?
Die Psychotherapie verlangt keinen Gehorsam, sie ist auf Vernunft und Erkenntnis aufgebaut und je mehr die Patient_innen über die Zusammenhänge von ihrer individuellen Geschichte mit den Symptomen ihres Leidens verstehen lernen, umso besser können sie damit umgehen. Seit Freud ist ein kritikloser und ergebener Gehorsam nicht mehr die Lösung, sondern das Übel. Wichtig!! Wichtig!! Wichtig!!
Da haben wir leider in der Musiktherapie einige Jahrzehnte verschenkt. Erst ab 1970 und durch Schmölz wehte bei uns ein kleines Lüfterl dessen, was die Psychotherapie ausmacht – oder ausmachen sollte.
Zwischenstopp.
Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, daß sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.  
Die Psychotherapie hatte lange ein Problem, dass wir so kaum kennen: das, was sich seit Freud ab 1900 weiter- und zum Teil von ihm wegentwickelt hatte, verlangte nach einem System, welches a) der heute existierenden Diversität psychotherapeutischer Behandlungsansätze und b) einer akademisierten Lehre gerecht werden konnte. Es wurde notwendig, ein theoretisches Gebäude zu entwickeln, welches hilft, das Gemeinsame und das Trennende aller Verfahren zu kategorisieren. Bei zunehmender Diversität innerhalb der Psychotherapie ging es darum, ob und wie es eine common identity gäbe, bei gleichzeitiger Freiheit, sich auch mit seinem Verfahren zu identifizieren! Ende des 20. Jahrhunderts war es an der Zeit, das Verbindende sowie die Unterschiede zu klassifizieren und zu benennen. Ansonsten, das war allen Beteiligten klar, würde es kein Psychotherapiegesetz geben. Es brauchte so etwas wie eine Kompassnadel im Therapiedschungel. In Österreich wurde die enorme Diversität innerhalb der Psychotherapie zur Kultur erhoben, ganz im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, wo man wegen zahlreicher Limitationen im Gesetz diese großartige Kultur der vielfältigen Grundorientierungen und Verfahren beschränkt hatte. Immerhin sind bei uns 23 Verfahren vom Gesetzgeber anerkannt. Kein Wunder, wir haben in Österreich immer eine etwas liberalere Sicht auf die Psychotherapie gehabt.
Hilarion Petzold, Mit-Begründer der Integrativen Psychotherapie publiziert und lehrt ab den 1990er-Jahren zwei hierarchisierende Ordnungssysteme: den Tree of Science und die Gliederung der Psychotherapie in Grundorientierungen, Verfahren und Methoden. Vor allem letzteres Modell klärt Fragen zur Binnenstruktur des psychotherapeutischen Feldes.
Folie 23: Binnenstruktur und Identität
Im übertragenen Sinne meinte Petzold (1993), dass die innere Stabilität einer Therapeut_innenpersönlichkeit aus dem Wissen um die Architektur „seines/ihres“ Gebäudes stamme. Das – nämlich die Identität der Therapeut_innenpersönlichkeit - war der Motor zur Erstellung dieser Architektur, auch das wollen wir nicht vergessen! Wann immer ich in der deutsch sprechenden Community außerhalb Österreichs die Modelle Petzolds präferiere, ernte ich auch Kritik: es sei nicht alles richtig, was er schreibe und vieles sei geklaut, und überhaupt. Ich kann nur sagen: bringen sie mir ein besseres Modell!
Folie 24: Liste der Verfahren
Wir sehen hier eine Tabelle mit den uns bekannten Grundorientierungen (wenn sie so wollen, auch der Paradigmen) und deren Begründer_innen. Das Schöne an dieser Auflistung ist, dass sie einer inneren historischen Logik folgt: eine Grundorientierung baut auf die vorangestellte auf, bzw. setzt sich mehr oder weniger explizit von der vorangestellten ab.   
Und nun kommen wir zur Seele der Psychotherapie, dem Tree of Science:
Wie bereits erwähnt, stellt der Tree of Science (Petzold, 2003, S. 65; Stumm, 2011, S. 13 f.) einen Versuch dar, der Psychotherapie ein inneres Ordnungs- und Orientierungsschema zu geben, mit dem sich alle Verfahren und Methoden auseinandersetzen können, um zu wesentlichen Themen wie Weltbild, Menschenbild, Krankheitsverständnis, etc. Stellung nehmen zu können bzw. zu beforschen. Der Tree of Science ist das Rückgrat der in Österreich vertretenen Psychotherapie. Die Metapher des Baumes ist nicht neu, sie wurde und wird in vielen Wissenschaften genutzt und illustriert, dass und wie sich etwas (weiter-) entwickelt hat, wobei die Bezüge aller einzelnen Aspekte zueinander immer im Blickfeld bleiben.
Folie 25: Baum der Erkenntnis
Bereits im Alten Testament gab es den Baum der Erkenntnis, welcher der Schlüssel zum Sündenfall war; im Mittelalter diente der Baum des Wissens der Sammlung und Systematisierung des bis dahin bekannten Wissens und René Descarte nannte den Baum der Wissenschaft „das große Buch der Welt“, die Gesamtheit des Wissens und aller Wissenschaften. Der Traum, das gesamte Wissen im Rahmen einer einzigen Metapher zu ordnen, ist also sehr alt. Petzold adaptierte diese Metapher für die Psychotherapie:
Folie 26: Tree of Science, Petzold
In meinem nun abschließenden Teil des Vortrages beziehe ich mich auf die Ebenen I. und II. und erkläre ihnen gegen Ende den Grund dazu:
Zunächst haben wir die vier Ebenen: Metatheorien, Therapietheorien, Praxeologie, Praxis. Links sehen sie Begriffe, die im Grunde nichts anderes wollen, als die für uns wichtigen Fragen auf der rechten Seite zu systematisieren. Wir müssen uns also Fragen stellen oder: wir müssen uns den Fragen stellen!

 

Der folgende Kasten wurde nur auf Ebene I. angesprochen


I. METATHEORIEN
Erkenntnistheorie-> wie wird die Wirklichkeit erkannt?
Wissenschaftslehre-> was ist Wissenschaftlichkeit?
Kosmologie-> was ist die Welt?
Anthropologie-> was ist der Mensch?
Gesellschaftstheorie-> wie hängen Mensch und Gesellschaft zusammen?
Ethik-> was darf ich, was muss ich, was ist erlaubt?
Ontologie-> was ist das Wesen des Seins?

II. THERAPIETHEORIEN
Allgemeine Theorie der Therapie-> Modelle, Wirkfaktoren, Ziele?
Persönlichkeitstheorie-> Strukturen und Funktionsweisen?
Entwicklungstheorie-> normierte Entwicklungsverläufe?
Gesundheits- und Krankenlehre-> was ist krank, was ist gesund?
Spezielle Theorie der Therapie-> Indikationen/Kontraindikationen?

III. PRAXEOLOGIE
Praxeologie-> Wissenschaft systematischer Praxis
Interventionslehre-> Theorien der Interventionslehre
Methodenlehre->Methoden, Techniken & Medien
Theorie des Settings-> phasenspezifische Konzepte?
Theorien zu spez. KlientInnensystemen-> z.B. Altersspezifisches
Theorien zu spez. Institutionen und Feldern-> ambulant, stationär oder Freie Praxis

IV. PRAXIS
in Dyaden
in Gruppen und Netzwerken
in Organisationen, Institutionen

Folie 27: Grafik vom Tree of Science aus der Gestalt
Conclusio
Warum ist es mir in meiner Abschiedsvorlesung so wichtig, mit dem Tree of Science zu enden? Nun, ich hatte das auch nicht beabsichtigt, aber während meiner Vorbereitungen fiel mir etwas auf und es versetzt mich erst jetzt in die Lage, meine oft auch ambivalente Beziehung zur Musiktherapie verstehen zu können. Sie – die Musiktherapie - setzt sich intensiv mit den Ebenen II, III und IV auseinander. Und: sie vernachlässigt, so meine Meinung, die erste Ebene, die Wurzeln sozusagen. Es scheint irgendwie so zu sein, dass man denken könnte: „je weiter von den Techniken weg, umso weniger beachtet“. Und „je näher hin zu beispielsweise klient_innenspezifischen Behandlungsformen, umso prominenter platziert“. Besuchen sie den nächsten internationalen Kongress für Musiktherapie, dann wissen sie, was ich meine. 
Die Metatheorien! Ich behaupte, dass die Seele der Musiktherapie in den Metatheorien ruhen könnte. 
Lassen Sie mich zum Abschluss auf einige Aspekte der Metatheorien eingehen, um ihnen die Bedeutung derer für unser Handeln zu illustrieren:

1.Versuch
Was ist Wirklichkeit? Wie erkennen wir die Wirklichkeit? Gibt es überhaupt Wirklichkeit? Gibt es eine oder mehrere Wirklichkeiten? Kann eine Wirklichkeit zweimal wirklich werden? Ist sie wiederholbar? Ist meine Wirklichkeit deine Wirklichkeit? Ist die in der Erinnerung von Proust auferstandene Wirklichkeit eine Wirklichkeit oder das Ergebnis einer neuronalen Vernetzung? Ist meine Wirklichkeit auch die von ihnen, liebe Anwesende? Wie bestimmen wir Musiktherapeut_innen die Wirklichkeit? Haben wir Modelle dazu? Sie sehen, die Liste der Fragen ist sehr lang.
Ich versuchte Ihnen im ersten Teil darzulegen, dass unsere Pioniergeneration in Wien – sei es, weil sie anthroposophischen Bekenntnisses war oder nicht, egal – einen starken Überhang zu Fragen der Kosmologie hatte. Zur Erinnerung: Die Kosmologie ist die Lehre, die sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des Weltalls beschäftigt. Editha Koffer-Ullrich war ein Beispiel dafür. Für sie bedeutet das: es gibt eine vom menschlichen Denken unabhängige, strukturierte Wirklichkeit. Um dies zu belegen, suchten unsere musiktherapeutischen Vorfahren ihre Marker ganz weit draußen im Weltall und in der Natur, um sich dann langsam vorarbeitend, Rückschlüsse auf die Musik und den Menschen ziehen zu können. Der Bezug zu Pythagoras lag hier nahe. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Henk Smeijsters` (1996/2009) historische Bausteine der Musiktherapie: „Magisches Paradigma“, „Mathemathisches Paradigma“, „Medizinisches Paradigma“ und „Psychologisches Paradigma“. Die Wiener Pionier_innen mäandrierten demnach zwischen allen vier möglichen Paradigmen, je nachdem mit starkem Überhang zum Mathematischen Paradigma.
Folie 28: Koffer-Ullrich Abschlussarbeit
Deshalb konnten Arbeiten wie die zuvor zitierte überhaupt zustande kommen. Oder der Titel der Abschlussarbeit von Schmölz.
Folie 29: Schmölz Abschlussarbeit
So meinte man, die Begründung dafür gefunden zu haben, warum und wie Musik wirke. Die Musik wurde so zu einem Etwas, in welchem die Gesetze bis hin zum Urknall vorhanden sein könnten. Viele unserer musiktherapeutischen Vorfahren glaubten, mit der Kosmologie und einer auf sie abgestimmten Sichtweise auf die Musik an sich eine Legitimation für die Behandlung menschlicher Seelen zu haben. Stichwort „Pythagoras“, Stichwort „Bach`sche Musik ordnet“. Wenn schon alles den gleichen Gesetzen gehorcht, dann auch der Mensch, dann auch die Musik, dann auch die Seele, dann auch der Körper. Es ist doch klar, dass in dieser Denkwelt die Musiktherapie von vollkommen anderen Grundannahmen ausging, bzw. ausgeht. Denken wir an Pontvik, Nordoff & Robbins und wie sie alle hießen: sie waren ihrem Glauben verpflichtet, dass Musik an sich ein ordnendes Agens beinhalte, welches die Seele zu heilen vermag. Und da sind wir bei einem Menschenbild und Krankheitsverständnis, welches besagt: Krankheit der Seele beruht auf einer spezifischen Art der „Unordnung“. Es ist etwas nicht mehr stimmig, etwas ist aus dem Ruder gelaufen. Dies zu glauben, steht jedem frei. Was ich ihnen aber sagen will, ist: selbst dieser kleine Aspekt aus der Ebene der Metatheorien „Was ist die Welt?“ - hat Konsequenzen für Methoden und Techniken. Das sollte man einfach wissen. Und das ist für mich das faszinierende am Tree of Science: es gibt eben kein Blättchen, was nicht aus den Wurzeln gespeist wird. Und wenn wir uns jetzt noch gemeinsam anschauen würden, wie man damals gearbeitet hat, dann begegnen wir Begriffen wie „musikzentrierte Musiktherapie“ oder „schöpferische Musiktherapie“. Das ist einfach logisch, oder?

2. Versuch
Dann kam Schmölz, der sich stetig weiterentwickelte und den Reformpädagogen Heinrich Jacoby verehrte: plötzlich wurde – ganz Reformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende, das Handeln zu einem sozialen, befreienden, aber auch auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Agens. Dieser Aspekt möglicher Erkenntnisgewinnung passte wunderbar mit der Leitfigur seines klinischen Arbeitsplatzes zusammen: Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie, der u.a. die soziale Umwelt der Patient_innen und die gegenseitigen Einflussnahmen auf die Gesundheit des Menschen in das Blickfeld rückte. Und zu Ende gedacht heißt das ja nur: wenn das Maß realer und von der Gesellschaft tolerierter Handlungen bei unseren psychosomatischen Patiet_innen ausgeschöpft ist, dann muss eben der Körper handeln, dann müssen die Organe handeln. Auch das ist logisch.
Folie 30: eine Gruppe improvisiert
Also geht der Weg der Erkenntnis hier über die Reflektion der Handlung während der musiktherapeutischen und meist freien Improvisation und dem soeben Erlebten; so erschließt sich ein Teil der sozialen und psychischen Wirklichkeit – für die Patient_innen. Für einen kurzen Moment bin ich in der Lage, dieses und jenes zu erkennen. Meine Angst, mein Neid, meine Minderwertigkeit, … . Weitergedacht bedeutete das für die Musiktherapie: nicht nur die Musik ist der Wirkfaktor, sondern es ist das Tun, das Handeln, das Improvisieren. Folglich, und auch wieder logisch, wird man sich hier Fragen annähern wie: Wie stelle ich mich den auftauchenden Problemen? Wie re-agiere ich? Wie werde ich Teil der Gruppe, oder umgekehrt: wie schütze ich mich vor den anderen? Und siehe da, da sind wir schon ein wenig in der Wiener Schule!  

3. Versuch
Ich kann mich natürlich einer Richtung anschließen, die für mich die Wirklichkeit erklärt. Ich übernehme das dann und erwarte von meinen Patient_innen, dass sie sich in diese Matrix einfügen. Das geht, keine Sorge! Ich kann aber auch die Wirklichkeit verstehen wollen, in dem ich das Verstehen als einen Prozess interpretiere, als einen spiralförmigen Verstehensprozess, der zu einem ständigen Verstehenszuwachs führt, der mich in letzter Konsequenz vom Ausgangspunkt entfernt und zu neuen Fragen führt. Das nennen wir Hermeneutik, bzw. die „hermeneutische Spirale“.
Folie 31: Grafik - Hermeneutische Spirale
Verstehen ist etwas Dynamisches, etwas, dass sich jeder Schablonisierung entzieht. Das bedeutet, dass ich die Wesensmerkmale meines Gegenübers unter Einbeziehung der Reflexion meines eigenen Interpretationsstandpunktes im Sinne wechselseitiger Beziehungsmomente zu erkennen versuche. Dass es dabei weder falsche noch richtige, sondern bestenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen gibt, versteht sich von selbst. Ich bin also Teil der Erkenntnis! Diese Art der Erkenntnisgewinnung hat sich in der Psychotherapie, vor allem in den Humanistischen Verfahren durchgesetzt – mein Gegenüber und ich, wir sind beide Teile eines Verstehensprozesses. Du und ich; Ich und Du….
Usw., usw., usw. Um alle Ebenen durch zu deklinieren, bräuchten wir viel Zeit; also wieder eine oder mehrere Vorlesungen.
Folie 32: mdw – alter Institutseingang Rennweg

Kommen wir zum Schluss
Mein Wunsch an die Musiktherapie in diesem Hause – im Übrigen ein Haus, welches uns in der letzten Dekade mit sehr viel Wertschätzung behandelt hat - und an die Musiktherapie überall: Weiter so! Wir sind noch immer jung und auf einem Weg. Aber: ich bitte die Balance zwischen den kleinen Ästchen und Blättchen und dem Stamm mit seinen Wurzeln zu halten. Wir – zumindest wir in Wien - sind in einem psychischen Raum des daddylessness entstanden. Mütter, die dieses Vakuum füllen wollten, haben wir nie (hier in Wien) akzeptiert. Ich habe den Eindruck, dass wir uns sehr bemühen, das Vakuum des daddylessness durch neue Blüten, Blätter und Äste zu füllen. Das ist gut so und eine wissenschaftlich basierte Therapie braucht das – aber obwohl wir so viele Frauen sind, fehlt mir doch ein wenig das Weibliche in der Musiktherapie: mir fehlt die Pflege, die Nahrung, das Sorgetragen. Ich habe Sorge, dass wir vergessen, uns den großen Fragen zu stellen: was ist der Mensch? Was braucht der Mensch? Ohne diese Fragen werden wir seelenlos! In diesen instabilen Zeiten leiden unsere Patient_innen mehr als je zuvor an existenzbedrohenden Gefühlen. Sie sind mehr denn je bewegt von den großen Fragen nach dem Sinn ihres Lebens. Post-Corona wird nie mehr Prä-Corona sein. Sie haben das Recht, mit Therapeut_innen zu arbeiten, die sich ebenfalls mit diesen Fragen auseinandersetzen. Sie haben das Recht, mit einem therapeutischen Verfahren behandelt zu werden, welches nicht wegschaut. In einer Zeit der kurzgreifenden und scheinbar effizienten Lösungsangebote haben wir die Chance, uns weiterzuentwickeln. Und da ist noch sehr viel Luft nach oben!
Wir haben einen sehr guten community effect erarbeitet: wir kommunizieren miteinander, wir tauschen uns aus, national und international. Haben wir auch eine Konfliktkultur? Ich denke mir oft, dass wir bei unserem rasanten Wachstum ein wenig darauf vergessen haben.
Folie 33: Photo Paukenpartnerspiel
Das bringt mich zu Allerletzt zum Paukenpartnerspiel nach Schmölz: Das Paukenpartnerspiel ist das Beispiel par exellence für eine gelebte Philosophie. Der Philosophie des Miteinanders, einer gesunden Konfliktkultur, des Entdeckens eigener und fremder Grenzen, des Mutes und der Schwäche, des Schuldgefühls und der Verantwortung, etc. Dahinter verbergen sich geistige Welten, die für uns und unsere Patient_innen existentiell sind. Wenn wir während unserer musikalischen Handlungen mit diesen Welten in Kontakt sind, dann, so meine ich, haben wir der Musiktherapie eine Seele gegeben. Und dann sind wir auch ein wenig „Wiener Schule“. Der Tree of Science lässt uns verstehen, dass die Dinge auch immer in einen Zusammenhang mit Etwas, wenn sie so wollen, etwas Größeren zu betrachten sind: Auch Techniken und Methoden können kontextbezogen bezogen sein.
Folie 34: Hänsel und Gretel wie Folie 6
Hänsel und Gretel haben ein Tabu gebrochen und es überlebt! „Geht nicht in den Wald“. Und Adam und Eva haben ein Tabu gebrochen: „Esse nicht von diesem Baum!“ Sie haben uns dadurch einen Haufen Mist beschert, der uns aber auch hat wachsen lassen. Unsere Pionier_innen haben auch ein Tabu gebrochen: sie sind quasi mit nichts als ihren musikalischen Fertigkeiten in eine medizinische und hochkomplexe Welt eingedrungen, die sie nicht kannten und ich weiss, dass einige von ihnen diese bis zum Schluss nicht begreifen konnten. Einige waren geduldet, andere erfuhren immerhin eine Wertschätzung zu Lebzeiten. Ähnlich blind und naiv wie Hänsel und Gretel. Dass sie nicht verloren gingen, ist zunächst einmal ihrem Überlebenswillen und ihrer unermesslichen Sturheit zu verdanken.  
Meine Empfehlung an alle von uns: verlieren wir die existentiellen Grundbedingungen der Menschen nie aus den Augen und werden uns bewusst, dass Musiktherapie auch, oder vor allem, eine angewandte Geisteswissenschaft ist.

 

Verwendete Literatur
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Fronsburg, im Oktober 2021


Dr. Elena Fitzthum

 

Dieses Zitat stammt aus einem „Forschungsantrag“, dessen Datum nicht bestimmbar ist, aber sicher Jahre vor 1970 geschrieben wurde. Was aus diesem Antrag wurde, ist nicht bekannt. Aus dem Archiv der Autorin.

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